Dies ist ein als exzellent ausgezeichneter Artikel.

Judensau

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 23. Oktober 2007 um 18:46 Uhr durch PortalBot (Diskussion | Beiträge) (Bot: Automatisierte Textersetzung (-{{Zitat de §\|(.*?)\|(.*?)}} +{{§|\1|\2|juris}})). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Einblattdruck mit Wittenberger Judensau, 1596

Der Begriff Judensau bezeichnet als Tiermetapher ein im Mittelalter entstandenes häufiges Bildmotiv der antijudaistischen christlichen Kunst und antisemitischen Karikatur. Hierbei zielt insbesondere die Verwendung des Schweinemotivs auf eine Demütigung ab, da das Schwein im Judentum als besonders unrein (hebr. tame) gilt und ein Nahrungstabu ist.

Judensau-Spottbilder sind seit dem frühen 13. Jahrhundert vor allem in Deutschland belegt. Sie sind auf Steinreliefs und Skulpturen an etwa 30 Kirchen und anderen Gebäuden vornehmlich Mitteleuropas bis heute zu sehen. Daneben begegnet man dem Bildmotiv seit dem 15. Jahrhundert in der Art einer bösartigen Karikatur in Flug- und Hetzschriften und anderen Medien. Seit dem 19. Jahrhundert taucht der Begriff auch als Schimpfwort gegen Juden auf. Die Nationalsozialisten griffen ihn auf und verwendeten ihn in der Abwandlung „Saujude“ als Hetzparole zur Verleumdung, Demütigung und Bedrohung von Juden.

Wer den Ausdruck heute gegenüber Menschen benutzt oder öffentlich über sie äußert, macht sich in Deutschland (§ 185 Strafgesetzbuch), Österreich (§ 115 österreichisches Strafgesetzbuch) und der Schweiz wegen Beleidigung strafbar. In besonders schweren Fällen kommt in Deutschland auch eine Strafe wegen Volksverhetzung (§ 130 Strafgesetzbuch) in Betracht.

Das mittelalterliche Bildmotiv und seine Rezeption

Das mittelalterliche Bild einer „Judensau“ stellt Menschen und Schweine in intimem Kontakt dar. Die menschlichen Figuren zeigen die typischen Kennzeichen jüdischer Kleidung – etwa den damaligen „Judenhut“ oder den Gelben Ring. In der häufigsten Variante saugen diese als Juden kenntlich gemachten Figuren wie Ferkel an den Zitzen einer Sau. In anderen Darstellungen reiten sie verkehrt herum auf einem Schwein: das Gesicht dem After zugewandt, aus dem Urin spritzt. Auf wieder anderen Darstellungen umarmen oder küssen sie Schweine.

Verbreitung

Karte der architektonischen Nachweise der Judensau
Judensau am Dom St. Peter in Regensburg (Juni 2004)

Skulpturen oder Bilder einer Judensau sind noch an vielen Orten, meist Kirchengebäuden, zu finden. Etliche davon sind so stark verwittert, dass das Motiv unkenntlich wurde; einige wurden aber auch erst in jüngster Zeit wieder entdeckt. Die Untersuchung Isaiah Shachars von 1974 und weitere Quellen erwähnen (hier alphabetisch geordnet)

Ort Land Gebäude Darstellung
Aarschot Belgien Frauenkirche verwandte Darstellung
Bad Wimpfen Deutschland Stiftskirche St. Peter Wasserspeier
Bamberg Deutschland Bamberger Dom
Basel Schweiz Basler Münster neuerdings entfernt
Bayreuth Deutschland Bayreuther Stadtkirche neuerdings entfernt
Brandenburg an der Havel Deutschland Brandenburger Dom Kreuzgang
Cadolzburg Deutschland Cadolzburg Burgtor
Calbe Deutschland St. Stephani-Kirche Wasserspeier
Colmar Frankreich Münster St. Martin zwei Darstellungen, davon ein Wasserspeier
Eberswalde Deutschland St. Maria Magdalena
Erfurt Deutschland Erfurter Dom
Frankfurt am Main Deutschland Alter Brückenturm nicht mehr vorhanden
Freising Deutschland Dom nicht mehr vorhanden
Gnesen Polen Gnesener Kathedrale
Heiligenstadt Deutschland Kapelle St. Anna
Heilsbronn Deutschland Heilsbronner Münster
Kelheim Deutschland Stadtapotheke nicht mehr vorhanden
Köln Deutschland Kölner Dom
Köln Deutschland St. Severin neuerdings entfernt
Lemgo Deutschland St. Marienkirche
Magdeburg Deutschland Magdeburger Dom
Metz Frankreich Kathedrale von Metz
Nürnberg Deutschland St. Sebald
Regensburg Deutschland Regensburger Dom
Salzburg Österreich Rathausturm nicht mehr vorhanden
Spalt Deutschland Privathaus
Spalt
(Ortsteil Theilenberg)
Deutschland Kirchturm
Wiener Neustadt Österreich ehemals am Haus Hauptplatz Nr. 16,
heute im Museum
Wittenberg Deutschland Stadtkirche
Uppsala Schweden Dom Uppsala
Xanten Deutschland Xantener Dom
Zerbst Deutschland Nikolaikirche
älteste „Judensau“ am Dom zu Brandenburg, westlicher Kreuzgang

Die älteste bekannte Darstellung (um 1230) findet sich an einem Säulenkapitell im Domkreuzgang von Brandenburg. Es zeigt die Judensau als Mischwesen zwischen Jude und Schwein: Diese Version wurde später nicht mehr aufgegriffen. Dem 13. Jahrhundert zugehörig gelten auch die Beispiele in Lemgo, Xanten, Eberswalde, Wimpfen und Magdeburg. Dem 14. Jahrhundert rechnet Shachar die Motive in Heiligenstadt, Köln (Dom), Metz, Regensburg, Uppsala, Gnesen, Colmar und Nordhausen zu. Die übrigen Judensau-Bilder gehören dem 15. Jahrhundert an.

Heute nicht mehr vorhandene Darstellungen gab es ferner in Freising am Dom, in Frankfurt am Main (siehe unten), in Salzburg am Rathausturm und in Kelheim (siehe unten). Die dortige Judensau trug das Datum 1519.

Während die älteren Zeugnisse sich auf Sakralbauten beschränken, zeigt die Verwendung an Profanbauten im 15. Jahrhundert wie z. B. am Salzburger Rathaus, wie sich der Adressatenkreis der Darstellung verbreiterte.

Deutung

Die späteren, im 15. Jahrhundert entstandenen Bildmotive lassen sich als früheste Form einer judenfeindlichen Karikatur interpretieren, die drei sozialpsychologische Hauptfunktionen erfüllte (nach Angelika Plum):

  • die Juden dem Spott der Allgemeinheit preiszugeben, indem auf ihre angeblich typischen Verhaltensweisen hingedeutet wurde. Dies setzte antijudaistische Vorurteile beim Betrachter voraus;
  • eben diese Vorurteile zu verfestigen und zur Abgrenzung von Juden, indirekt so auch zum Handeln gegen sie zu ermuntern;
  • die Juden selbst in ihrem religiösen Selbstverständnis anzugreifen und zu verletzen.

Als grobe Spottbilder verbinden sie die Darstellung einer Intimität zwischen Mensch und Tier häufig mit Ausscheidungs- und Verdauungsprozessen. Dies zielte auf eine möglichst wirksame Diffamierung der Dargestellten durch extreme, symbolisch verkürzte Zuspitzung auf das „Typische“ (Matthias Beimel). Die Obszönität der Bilder appelliert beim Betrachter an Gefühlsreaktionen wie Ekel, Scham und Hass.

Dies sollte Anhänger des Judentums in besonders quälender Form öffentlich verunglimpfen, demütigen und aus der menschlichen Gemeinschaft ausgrenzen:

  • So untersagt die Tora (Lev 11,7 EU) Juden den Verzehr bestimmter Tierarten, darunter des Schweins. Schweinefleisch und Schweinemilch gelten Juden als unreine (nicht koschere) Nahrung.
  • Intimität zwischen Mensch und Tier (Zoophilie) gilt in der Bibel als besonders schwere Perversion und todeswürdiges religiöses Vergehen (Ex 22,18 EU).

Dem Betrachter des Judensau-Motivs wurde also suggeriert, dass Juden besonders sündige, abstoßende, verkehrte und ausschweifende Dinge tun und mit Schweinen artverwandt seien. Das sprach ihnen ihre Menschenwürde ab, auf die es in ihrer Religion gerade ankommt: Die Gottebenbildlichkeit unterscheidet den Menschen von den Mitgeschöpfen, die ihm dienen und deren Leben er bewahren, aber nicht mit der Gottheit verwechseln soll (Gen 1-2 EU). Zugleich zementierte das Motiv eine gesellschaftliche Distanz zur jüdischen Minderheit. Darum kann man darin einen Vorläufer des späteren Rasse-Antisemitismus sehen.

Herkunft und Bedeutungswandel

Das Schwein symbolisiert in biblischer Tradition die Unreinheit und Sünde, die der Mensch ablegen und überwinden soll, weil Gott ihn zu seinem Ebenbild berufen hat. So lässt Jesus von Nazaret nach Mk 5,1-20 EU die bösen Geister, die einen Menschen beherrschen, in eine Schweineherde fahren, worauf diese sich ins Meer stürzt und ertrinkt. In [[Vorlage:Bibel: Angabe für das Buch ungültig!|2_Petr]] 2,22 EU heißt es demgemäß von denen, die sich vom christlichen Glauben abwandten:

„Es ist ihnen widerfahren das Sprichwort: Der Hund frisst wieder, was er gespien hat; die Sau wälzt sich nach der Notdurft wieder im Kot.“

Hier wurde die Rückkehr zum Judentum als Verhalten von Schweinen dargestellt. Aber schon einige Kirchenväter beschimpften Juden und Häretiker als solche als „Schweine“; bereits Johannes Chrysostomos übertrug diese Herabsetzung in seinen acht Sermonen 388 auf den jüdischen Gottesdienst in der Synagoge.[1]

Mit der Übernahme der hellenistischen Tugend- und Lasterkataloge bildete die christliche Theologie seit dem 5. Jahrhundert die Reihe der „Sieben Todsünden“ heraus: Die letzten beiden, Völlerei (lateinisch gula) und Wollust (luxuria), wurden in bildlichen Darstellungen oft mit einem Schwein symbolisiert. Es verkörpert die Unreinen und die Sünder, deren Bauch mit Schweinereien angefüllt ist, deren verdaute Exkremente sie ihren Nachkommen hinterließen (Ps 17,14 EU).

Diese allgemein menschlichen Verfehlungen wurden bis zum 9. Jahrhundert noch nicht mit dem Judentum identifiziert, sondern nur verglichen. Rabanus Maurus stellte in seiner Enzyklopädie De universo (847) Juden Schweinen an die Seite, da beide in gleicher Weise ihre gottlose, sündhafte Unmäßigkeit und Unkeuschheit „vererbten“. Er bezog sich dabei auf die „Selbstverfluchung“ in Mt 27,25 EU: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! Hier waren Juden wie Schweine noch eine Allegorie für die beiden Laster, vor deren Weitergabe der einfache Christ mit drastischen Bildern gewarnt wurde. So verkörperten auch Mönche und Affen die inconstantia (Untreue, Unbeständigkeit).

Die Skulpturen an Kirchen des Hochmittelalters symbolisierten den Aufstieg des Christentums zur herrschenden Weltanschauung, indem sie die siegreiche Ecclesia (Kirche) der unterlegenen Synagoge gegenüberstellten. Am Straßburger Münster zum Beispiel wurde letztere noch als formvollendete, edle und auch in der Trauer über ihre Niederlage hoheitsvolle Frauenfigur dargestellt (Entstehungszeit um 1230). Ihre verbundenen Augen symbolisieren die Blindheit des Unglaubens, ohne die Juden damit zu verspotten.

Auch frühe Judensau-Skulpturen im 13. Jahrhundert stellten zwar Juden negativ dar, sollten aber nicht das Judentum verhöhnen: Juden waren hier nur moralische Exempelfiguren für alle Sünder.[2] Doch schon die früheste Darstellung einer Judensau (um 1230) deutete die Wesensgleichheit von Juden und Schweinen an, indem sie die Judensau als Mischwesen beider darstellte. Sie stammt aus der Zeit, als die theologische „Verwerfung“ des Judentums sozialpolitisch zementiert wurde: Das 4. Laterankonzil 1215 markiert die kirchlich angeordnete Ghettoisierung der mittelalterlichen Judengemeinden und Diskriminierung u.a. durch eine Kleiderordnung.

Nun wurde das Judentum zunehmend als „verdorbene“, schmutzige und lächerliche Religion abgewertet. Das zeigen die später entstandenen Bildmotive. Am Chorgestühl des Erfurter Doms wird der Konflikt der Religionen als Turnier dargestellt (Anfang des 15. Jahrhunderts). Während die Kirche auf einem Pferd reitet, sitzt die Synagoge auf einem Schwein. Ein Säulenkapitell im flämischen Aarschot wandelt das Motiv ab: Dort reitet ein Jude auf einem Ziegenbock. Dieser war auch Symbol des Teufels, so dass das Motiv nun bereits über den bloßen satirischen Spott hinausging.

Judensau am Südostflügel der Stadtkirche Wittenberg

Das Judensau-Relief an der Wittenberger Stadtkirche (um 1440) stellt ein betont „perverses“, verhöhnendes Bild dar, das Abscheu und Ekel erregen sollte. „Der Jude“ erschien nun als widerwärtige Kreatur. Zudem trägt das Motiv den Titel Schem Ha Mphoras (hebräisch „der unverstellte Name“), bringt also den Namen Gottes mit einem für gläubige Juden unreinen Tier in Verbindung. Es bedeutet damit für sie eine ungeheuerliche Blasphemie. Dies zeigt anschaulich, dass sich gegen Ende des Mittelalters der ursprünglich religiöse Gegensatz von Kirche und Synagoge zu einer totalen, alle Lebensbereiche umfassenden Verachtung des Judentums als solchem verdichtet hatte.

Seit 1517 war die Schlosskirche der Predigtort Martin Luthers und Ursprung der Reformation. Seine antijudaistische Schmähschrift von 1546 trug denselben Titel wie das Motiv und deutete es wie folgt:[3]

„Hinter der Saw stehet ein Rabin, der hebt der Saw das rechte Bein empor, und mit seiner lincken hand zeucht er den pirtzel uber sich, bückt und kuckt mit grossem vleis der Saw unter dem pirtzel in den Thalmud hinein, als wolt er etwas scharffes und sonderlichs lesen und ersehen.“

Damit bezog Luther die Judensau auf den Talmud und verhöhnte die rabbinische Schriftexegese und den jüdischen Glauben insgesamt als schmutzige Lächerlichkeit. So schloss er jeden denkbaren theologischen Dialog mit Juden und die Anerkennung ihrer eigenständigen Tradition aus.

Kupferstich (18. Jh.) der Frankfurter Judensau

Besonders provokant gestaltet war die Frankfurter Judensau, ein um 1475 entstandenes Wandgemälde am Alten Brückenturm in Frankfurt am Main unweit der Frankfurter Judengasse. Es stellte bis zum Abriss des Brückenturms 1801 eine der touristischen Attraktionen der Stadt dar. Es zeigte einen Rabbi, der verkehrt herum auf einer Sau reitet, einen jungen Juden unter dem Bauch an den Zitzen, einen weiteren am After oder der Vulva saugend; hinter der Sau stehend den Teufel selbst und eine auf einem Ziegenbock, einem Teufelssymbol, reitende Jüdin. Zudem war darüber der verstümmelte Leichnam des Simon von Trient zu sehen, der angeblich einem Ritualmord von Juden zum Opfer gefallen war. Die Bildunterschrift lautete:

„Saug du die Milch, friß du den Dreck,
Das ist doch euer best Geschleck.“

Dies sollte unterstreichen, dass Juden abartige Wesen seien, die den Tieren und dem Teufel näher stünden als dem Menschen. Die Verknüpfung des Judensau-Motivs mit einem Ritualmord sollte eine Pogromstimmung schüren.[4] Die Darstellung wurde in großer Zahl auch auf Holzschnitten und Kupferstichen, von denen verschiedene Varianten vorliegen, verbreitet. Auf den Druckwerken hat der Teufel meist eine als jüdisch angesehene Physiognomie und trägt auch den Judenring.

Frühe Neuzeit: Gedruckte Zeugnisse

Darstellung aus einem Blockbuch des 15. Jahrhunderts

Seit der Erfindung des Buchdrucks finden sich Judensau-Spottbilder vermehrt in Büchern und Flugschriften, besonders in der Reformationszeit. Auf so genannten Judenspottmedaillen des 16. Jahrhunderts war das Motiv ebenfalls vertreten.

Auch die deutschsprachige Literatur bezeugt in Gestalt eines Fastnachtspiels von Hans Folz aus dem 15. Jahrhundert, wie sehr das Judensau-Motiv Allgemeingut war. Im Spiel Ein spil von dem herzogen von Burgland (Keller Nr. 1) wird am Schluss als Strafe für die Juden vorgeschlagen:[5]

„Ich sprich, das man vor allen ding Die allergrost schweinsmuter pring, Darunter sie sich schmiegen all Saug ieder tutten mit schall; Der Messias lig unter dem schwanz!“

Die assoziative Verbindung von Juden, Sau und Teufel wurde nun auch auf ihre körperlichen Eigenschaften übertragen, indem Bilder sie mit Schweinsohren, Bocksfüßen und Hörnern karikierten. Ein antijüdisches Pamphlet von 1571 etwa zeigte auf dem Deckblatt Judenfiguren mit dem Gelben Fleck, die mit abstoßenden Körpermerkmalen wie Teufelskrallen, Klauen- und Krähenfüßen, Schweinsgesichtern mit Hörnern und Geweihen ausgestattet sind. Eine davon, ein Gaukler mit Dudelsack, reitet auf einer Sau, die ihre Exkremente frisst.[6]

Im 17. und 18. Jahrhundert waren die Judensau-Darstellungen von Wittenberg und Frankfurt am Main besonders populär. Sie wurden mehrfach in Büchern abgebildet und dienten der antijüdischen Propaganda. Es finden sich aber auch noch im 19. Jahrhundert Darstellungen, insbesondere in der Druckgrafik, die Juden in abfälliger Weise mit Schweinen in Verbindung brachten.

Das Motiv in der antisemitischen Propaganda

Judensau in einem antisemitischen Buch von 1822

Die medial breit ausgefächerte Fortsetzung der antijüdischen Propaganda im 19. Jahrhundert setzte eine etablierte, durch die genannten Bildzeugnisse verfestigte Assoziation von Juden mit Schweinen voraus. Im Deutschen Kaiserreich nahm die Tradition antisemitischer Karikaturen im Kontext der Judenemanzipation (1870–1890) einen Aufschwung.

Seit wann die verbale Beschimpfung Judensau üblich ist, ist der Literatur über die mittelalterliche Bilddarstellung jedoch nicht zu entnehmen. Der einschlägige Band des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm von 1877 enthält das Stichwort nicht.

Seit der Novemberrevolution von 1918 benutzten nationalistische Rechte in Deutschland den Ausdruck, um die „Novemberverbrecher“ öffentlich zu denunzieren. So kursierte seit etwa 1920 ein deutschnationales Stammtischlied, das gegen den damaligen Außenminister der Weimarer Republik hetzte:

„Knallen die Gewehre – tak, tak, tak
Aufs schwarze und aufs rote Pack.
Auch Rathenau, der Walther,
Erreicht kein hohes Alter,
Knallt ab den Walther Rathenau,
Die gottverdammte Judensau!“

zitiert nach Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland, Amsterdam 1933, S. 266

1922 wurde diese Aufforderung in die Tat umgesetzt und Rathenau auf offener Straße erschossen.

Auf diese Funktion des Motivs griffen dann auch die Nationalsozialisten zurück. Sie aktivierten die seit dem Mittelalter im Volk verankerten antijudaistischen Stereotypen gezielt für die ideologische Vorbereitung des Holocaust. Der „Stürmer“ setzte seit 1923 die Tradition antisemitischer Karikaturen fort. Er verband religiöse mit pornographischen und rassistischen Motiven, übernahm und steigerte die in der Kirchengeschichte vorgegebene Verbindung der „Judensau“ mit Ritualmorden, „Blutsaugern“ und dem „Satan“.

Diese Tradition bildete den Hintergrund für Zerrbilder von Juden mit schiefen Zähnen, Tierklauen, triefenden Mundwinkeln und gierigem Blick, die Scharen junger blonder Mädchen verführten und „vergifteten“. Die Motivik bezog sich nun auf die „Rassenschande“, aber auch auf das „Aussaugen“ der „arischen Rasse“. In einer Karikatur des Stürmers vom April 1934 symbolisiert das Judensau-Motiv die angebliche Medienmacht der Juden. Die mit einer Mistgabel durchbohrte Sau trägt die Aufschrift Juden-Literatur-Verlage, die Bildunterzeile lautet: Wenn die Sau tot ist müssen auch die Ferkel verrecken. Als am Tropf der Verlage hängende „Ferkel“ sind u. a. Albert Einstein, Magnus Hirschfeld, Alfred Kerr, Thomas Mann und Erich Maria Remarque dargestellt.[7]

Damit wurden aktuelle Ereignisse aufgegriffen und in Form einer „personalen Typenkarikatur“ auf eine angeblich typische, dauerhafte Charaktereigenschaft aller Juden zugespitzt, die auf Ursachen in der jüdischen Kultur, Religion und Rasse verweisen sollte. Anders als die neuen politischen Karikaturen des 19. Jahrhunderts richteten sich diese Bilder nicht mit aufklärerischer Intention gegen die Herrschenden, um durch deren Verspottung eine subversive Distanz in der Bevölkerung zu fördern, sondern gegen eine unterlegene Minderheit, die dem Betrachter als völlig verabscheuungswürdig ausgeliefert wurde. Sie sollten nicht komplexe politische Zusammenhänge transparent machen, sondern knüpften an eine Suche nach Sündenböcken an.

Im Kontext der systematischen Judenverfolgung vom Boykott jüdischer Geschäfte (1. April 1933) an entfaltete diese Hetzpropaganda dann ihre historisch beispiellose Wirkung. Seit den „Gesetzen zum Schutz des deutschen Blutes“ von 1935 waren sexuelle Kontakte zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen streng untersagt und für den männlichen Partner mit Haftstrafe bedroht. Nichtjüdische Frauen, die solcher „Rassenschande“ beschuldigt wurden, wurden öffentlich als „Judenhure“ gedemütigt, etwa indem man ihnen Schilder mit der Aufschrift um den Hals hängte:[8]

„Ich bin am Ort das größte Schwein und lass mich nur mit Juden ein.“

Aktualität der Beschimpfung

Aufgrund der historischen Erfahrungen gehören „Judensau“ und „Saujude“ im heutigen Strafrecht zu den eindeutigen Beleidigungen. Zu hören sind diese Ausdrücke dennoch, etwa auf Fußballplätzen gegen jüdische oder israelische Sportler oder Schiedsrichter. Das Motiv tritt aber nicht nur – ähnlich wie „Türkensau“ – als gewöhnliche Beschimpfung oder Fremdenhass auf, sondern weiterhin auch als gezieltes Mittel zur Entmenschlichung von Juden.

Seit etwa 1990 haben Angriffe auf Menschen jüdischer Herkunft in Deutschland wieder zugenommen. Dabei geht es oft um antisemitische Straftaten wie die Schändung jüdischer Grabstätten und Mahnmale. So wurde etwa das gemeinsame Grab von Bertolt Brecht und seiner Frau Helene Weigel, die jüdischer Herkunft war, kurz nach Öffnung der Berliner Mauer 1989 mit der Parole „Sau-Jude“ beschmiert. In der Nacht zum 20. April 1992, des „Führers Geburtstag“, warfen Neonazis eine Schweinekopfhälfte in den Vorgarten der Erfurter Synagoge. Dies wiederholten der Neonazi Thomas Dienel und drei Skinheads am 20. Juli 1992 - nach dem Tod von Heinz Galinski - mit zwei Schweinekopfhälften. Auf dem beigefügten Zettel stand: Dieses Schwein Galinski ist endlich tot. Noch mehr Juden müssen es sein.[9] Das Mahnmal für deportierte Juden in Berlin-Grunewald wurde im Oktober 1993 mit Schweineköpfen geschändet. Im Oktober 1998 trieben Neonazis ein Ferkel mit einem aufgemalten Davidstern und dem Namen von Ignatz Bubis über den Alexanderplatz in Berlin.

Diese Form der Entwürdigung soll nicht nur Repräsentanten des Judentums in Deutschland, sondern alle Juden treffen. Sie kommt daher in ihrer Absicht als kollektive Schmähung („Alle Juden sind Schweine/Säue“) dem Tatbestand einer Volksverhetzung nahe. Dafür wurde auch der als Schänder des Grabes von Ignatz Bubis in Israel bekannte Meir Mendelssohn angezeigt: Er hatte das Publikum im Rahmen eines von Christoph Schlingensief veranstalteten Theaterabends am 22. November 1999 in der Berliner Volksbühne aufgefordert,

„... das Wort Judensau zu sagen, ganz normal und ganz natürlich.“

Auch islamische Antisemiten bezeichnen Juden öfter als „Affen und Schweine“. Sie berufen sich dabei auf Koranstellen (Suren 2,64-67; 5,61; 7,161-167), nach denen Allah frevelnde Juden in Affen und Schweine verwandelt haben soll. Die genaue Deutung dieser Verse ist umstritten. Ob und seit wann es einen Zusammenhang zwischen ihnen und dem europäischen Judensau-Motiv gibt, ist unbekannt. Heute übernehmen manche Muslime in Deutschland offenbar die Beschimpfung „Judensau“ oder „Judenschwein“.

Umgang mit historischen Judensau-Darstellungen

Es ist umstritten, ob historische Judensau-Darstellungen entfernt werden oder als Zeitzeugnisse an ihrem Ort bleiben sollen. Während Denkmalpfleger und Historiker argumentieren, heute außerordentlich anstößige Motive müssten in ihrem damaligen architektonischen Kontext dokumentiert bleiben, sehen Kritiker in ihrer Beibehaltung eine mangelnde Sensibilität gegenüber dem Antisemitismus.

Bereits 1945 nach Kriegsende entfernt wurde die Darstellung von der Stadtapotheke in Kelheim, wahrscheinlich auf Weisung eines Offiziers der US-Armee.

Mahnmal für die Juden am Südostflügel der Stadtkirche Wittenberg

1988 entwarf der Bildhauer Wieland Schmiedel aus Crivitz in Mecklenburg im Auftrag des Gemeindekirchenrats der Wittenberger Stadtkirche eine Gedenkplatte, die unterhalb des Judensau-Reliefs in den Boden eingelassen wurde, um auf die historischen Folgen dieses Judenhasses hinzuweisen: die Shoa. Sie stellt eine mit Stacheldraht in Kreuzesform versiegelte Bibel dar; die Texteinfassung zitiert in hebräischer Sprache einen Psalmvers (Ps 130,1): Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Ergänzend heißt es mit Worten des Berliner Schriftstellers Jürgen Rennert:

„Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.“

Am 24. April 1990 machte sich eine Synodalerklärung der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg diese Initiative zu eigen und empfahl:

„Sofern die Kunstwerke an ihrer Stelle verbleiben, sollte der Betrachter durch Hinweise […] auf Schuld und Betroffenheit der Kirche aufmerksam gemacht und zu neuer Sicht angeleitet werden.“

Mahntafeln wurden jedoch bisher nur in wenigen Ausnahmefällen an Kirchen angebracht. Sie genügen einigen Kämpfern gegen Antijudaismus und Antisemitismus nicht. Diese finden die weiter vorhandenen Darstellungen unerträglich und fordern ihre Entfernung. So fand 2002 in Köln eine Protestaktion statt, bei der der Aktionskünstler Wolfram Kastner das Judensau-Motiv im Dom als Modellfall für die Produktion von Gewaltbildern in unseren Köpfen (Marten Marquardt) thematisierte.

Auch in Regensburg griff Kastner 2005 die Verantwortlichen an, als diese eine Hinweistafel zur stark verwitterten Skulptur im Dom vorstellten. Diese war ein Kompromiss zwischen der Diözese Regensburg, dem Kultusministerium und dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern. Der Text lautet:

„Die Skulptur als steinernes Zeugnis einer vergangenen Epoche muss im Zusammenhang mit ihrer Zeit gesehen werden. Sie ist in ihrem antijüdischen Aussagegehalt für den heutigen Betrachter befremdlich.“

Ein Gegenentwurf Kastners, der die christliche Mitschuld benannte, wurde von Kirchenvertretern wieder entfernt.

In Bayreuth brachte die evangelische Kirche 2005 eine Tafel mit der Inschrift an:

„Unkenntlich geworden ist das steinerne Zeugnis des Judenhasses an diesem Pfeiler. Für immer vergangen sei alle Feindseligkeit gegen das Judentum.“

Quellen

  1. Petra Schöner, Judenbilder S. 189ff
  2. Isaiah Shachar, „The Judensau“ S. 22f
  3. Weimarer Ausgabe Bd. 53, S. 600ff; Originaldruck von Luthers „Schem Hamphoras“, Volltext
  4. Wilfried Schouwink, Der wilde Eber in Gottes Weinberg S. 88
  5. zitiert nach Petra Schöner, a.a.O. S. 197
  6. Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt, Judenbilder S. 160
  7. Interfoto Bild-Nr. 00209619
  8. Der Spiegel (13. Oktober 2006): Judenschmähung im Nazi-Reich - Mit Schildern als „Rassenschänder“ gebrandmarkt
  9. Juliane Wetzel: Antisemitismus als Element rechtsextremer Ideologie und Propaganda. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils. dtv, München 1995, ISBN 3-423-04648-1, S. 106

Literatur

  • Isaiah Shachar: The Judensau. A Medieval Anti-Jewish Motif and its History. Warburg Institute, London 1974. ISBN 0854810498 (für die Forschung maßgebliche Monografie)
  • Matthias Beimel: Die Karikatur als Ersatzhandlung. Antisemitismus in der NS-Propaganda und ihre Vorbilder. In: Geschichte lernen. Friedrich, Velber 3.1990, 18, S. 28-33. ISSN 0933-3096
  • Bernhard Blumenkranz: Juden und Judentum in der mittelalterlichen Kunst. Kohlhammer 1965.
  • Thomas Bruinier: Die ‚Judensau‘. Zu einem Symbol des Judenhasses und seiner Geschichte. in: Forum Religion. Kreuz-Verlag Breitsohl, Stuttgart 1995, 4, S. 4–15. ISSN 0343-7744
  • Eduard Fuchs: Die Juden in der Karikatur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. München 1921, Guhl, Berlin 1985 (Nachdr.). ISBN 3-88220-409-5
  • Petra Schöner: Judenbilder im deutschen Einblattdruck der Renaissance. Ein Beitrag zur Imagologie. Valentin Koerner, Baden-Baden 2002, S. 189-208. ISBN 3873204428 (Rezension)
  • Angelika Plum: Die Karikatur im Spannungsfeld von Kunstgeschichte und Politikwissenschaft. Eine ikonologische Untersuchung zu Feindbildern in Karikaturen. Berichte aus der Kunstgeschichte. Shaker, Aachen 1998). ISBN 3-8265-4159-6
  • Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Rowohlt, Reinbek 1991. ISBN 3-499-55498-4
  • Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hrsg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen. Bechtermünz, Augsburg 1999. ISBN 3-8289-0734-2
  • Wilfried Schouwink: Der wilde Eber in Gottes Weinberg. Zur Darstellung des Schweins in Literatur und Kunst des Mittelalters. Thorbecke, Sigmaringen 1985, S. 75–88. ISBN 3799540164
  • Heinz Schreckenberg: Die Juden in der Kunst Europas. Ein historischer Bildatlas. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2002, S. 343–349 („Das ‚Judensau‘-Motiv“). ISBN 3525633629

Weblinks

Aktuelle Berichterstattung 2004/2005

Commons: Judensau – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien