Hildebrandslied

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 3. Juni 2016 um 12:08 Uhr durch Proxy (Diskussion | Beiträge) (→‎Weblinks: + LCCN). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Erstes Blatt des Hildebrandsliedes

Das Hildebrandslied (Hl) ist eines der frühesten poetischen Textzeugnisse in deutscher Sprache aus dem 9. Jahrhundert. Es ist das einzig überlieferte Textzeugnis eines Heldenlieds germanischen Typs in der deutschen Literatur, und darüber hinaus, generell das älteste erhaltene germanische Heldenlied. Das überlieferte heldenepische Stabreimgedicht besteht in herkömmlicher Zählung aus 68 Langversen. Es erzählt primär in althochdeutscher Sprache eine Episode aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern.

Als ältestes und einziges Werk seiner Art ist das Hildebrandslied ein zentrales Objekt germanistisch-mediävistischer Sprach- und Literaturwissenschaft. Den heutigen geläufigen Titel erhielt der eigentlich anonyme Text durch die wissenschaftlichen Ersteditoren Jacob und Wilhelm Grimm. Der Codex Casselanus befindet sich in der Handschriftensammlung der Landes- und Murhardschen Bibliothek Kassel.

Inhalt

althochdeutsch 

Ik gihorta dat seggen,
dat sih urhettun ænon muotin,
Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem.
sunufatarungo iro saro rihtun.
garutun se iro gudhamun, gurtun sih iro suert ana,
helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun.

deutsch

Ich hörte (glaubwürdig) berichten,
dass zwei Krieger, Hildebrand und Hadubrand, (allein)
zwischen ihren beiden Heeren, aufeinanderstießen.
Zwei Leute von gleichem Blut, Vater und Sohn, rückten da ihre Rüstung zurecht,
sie strafften ihre Panzerhemden und gürteten ihre
Schwerter über die Eisenringe, die Männer,
als sie zu diesem Kampf ritten.

Übertragung: Horst Dieter Schlosser, Althochdeutsche Literatur. Berlin 2004.

Zweites Blatt des Hildebrandsliedes

Hildebrand hat Frau und Kind verlassen und ist als Krieger und Gefolgsmann mit Dietrich in die Verbannung gezogen.[1] Nun kehrt er nach 30 Jahren heim. An der Grenze, zwischen zwei Heeren, stellt sich ihm ein junger Krieger entgegen. Hildebrand fragt diesen, wer sin fater wari (wer sein Vater wäre). So erfährt Hildebrand, dass dieser Mann, Hadubrand, sein eigener Sohn ist. Er gibt sich Hadubrand zu erkennen und versucht durch das Angebot von Geschenken (goldenen Armringen) sich diesem verwandtschaftlich, väterlich zuzuwenden. Hadubrand weist die Geschenke brüsk zurück und meint, er sei ein listiger alter Hunne, denn Seefahrer hätten ihm berichtet, dass sein Vater tot sei (tot is hiltibrant). Mehr noch, die Annäherungsversuche des ihm Unbekannten, der sich als sein Vater ausgibt, sind für Hadubrand ein feiger Verrat an der Ehre seines totgeglaubten Vaters. Ist die Verspottung als „alter Hunne“ und die Zurückweisung der Geschenke schon eine Herausforderung zum Kampf, so bleibt Hildebrand nach den Worten Hadubrands, dass sein Vater im Gegensatz zu dem ihm unbekannten Gegenüber ein Mann von Ehre und Tapferkeit sei, kein Weg mehr offen. Nach den Sitten ist er nun gefordert um seiner eigenen Ehre willen die Herausforderung des Sohnes zum Kampf anzunehmen unter Inkaufnahme des Todes, seines, oder des Sohnes. Welt- und kampferfahren ahnt Hildebrand die Dinge voraus, die folgen werden und klagt so über sein furchtbares Schicksal: „welaga nu, waltant got“, quad Hiltibrant, „wewurt skihit“; „Wehe, waltender Gott“, sprach Hildebrand, „ein schlimmes Schicksal nimmt seinen Lauf!“ Zwischen zwei Heeren stehen nun Vater und Sohn; es kommt zum unausweichlichen Kampf. Hier bricht der Text ab. Vermutlich, wie ein späterer altnordischer Text aussagt, endet der Kampf mit dem Tod Hadubrands.

Rezeption

Handschriftenbeschreibung

Der einzige erhaltene Textzeuge des Hildebrandsliedes wird in der Universitätsbibliothek Kassel unter der Signatur 2° Ms. theol. 54 aufbewahrt. Das Manuskript gehört zu den Altbeständen der Landesbibliothek Kassel. Die Handschrift befand sich als Kriegsbeute nach 1945 zeitweilig in den USA, wo kriminelle Antiquare eines der beiden Blätter abtrennten und die Handschrift für eine hohe Summe verkauft wurde. Es konnte erst 1972 wieder mit dem Codex vereinigt werden.[2] Der Text des Hildebrandsliedes befindet sich auf den Seiten 1r und 76v einer frühmittelalterlichen Pergament-Handschrift, also auf der Vorderseite des Blattes 1 und der Rückseite des Blattes 76. Bei diesen Seiten handelt es sich um die ursprünglich leer gebliebenen Außenseiten des Kodex.

Der Hauptteil des Kodex wurde wahrscheinlich um 830 im Kloster Fulda geschrieben und enthält die biblischen Texte Sapientia Salomonis und Jesus Sirach in lateinischer Sprache. Das althochdeutsche Hildebrandslied ist offensichtlich ein nachträglicher Eintrag etwa des 3. – 4. Jahrzehnts des 9. Jahrhunderts. Die Aufzeichnung bricht ab, weil der Platz auf dem letzten Blatt nicht ausreichte.

Schrift und Sprache

Beim Hildebrandslied handelt es sich auf Grund der Handlung im Spektrum der Dietrichsagen um eine Sprosssage, die vom Rezipienten Vorwissen verlangt.[3] Aus diesem Sagenkreis um Dietrich hat sich die Hildebrandsage als wichtigste herausgebildet, mit dem Zweikampfmotiv als grundlegende Fabel.[4]

Das Hildebrandslied wurde um 830–840 von zwei unbekannten Fuldaer Mönchen in hauptsächlich althochdeutscher Sprache, jedoch in einer eigentümlichen altsächsisch-altbairischen Mischsprache[5] und mit angelsächsischen Schreibbesonderheiten aufgezeichnet. Aus dem Schriftbild des Textes ist festzustellen, dass die zweite Schreiberhand für die Verse 30–41 verantwortlich war. Die geringfügigen angelsächsischen, beziehungsweise altenglischen Einflüsse werden beispielsweise im Vers 9 deutlich, in der Phrase: ƿer ſin fater ƿarı. Durch die Verwendung des altenglischen Schriftzeichens Ƿ für den uu-Laut, sowie in der Ligatur „æ“, beispielhaft im Vers 1.

Die Mischung aus hoch- und niederdeutschem Dialekt versucht man damit zu erklären, dass vermutlich der oder die niederdeutschen Schreiber das hochdeutsche Lied nur ungeschickt wiedergeben konnten. Diese Abschreibfehler zeigen an, dass die Niederschreiber nach Vorlage arbeiteten. Zu diesem Umstand kommen althochdeutsche Lexeme, die nur im Hildebrandslied zu finden sind (Hapax legomenon), wie unter anderen das auffällige Kompositum sunufatarungo (Vers 3), dessen genaue Bedeutung ungeklärt ist, beziehungsweise sich im wissenschaftlichen Diskurs befindet.[6]

„Eindeutig oberdeutsch sind die anlautenden Tenues in prut (»Braut, Ehefrau«) oder pist (»bist«) oder die anlautenden Affrikaten in chind (»Kind«) etc. Niederdeutsch ist das durchweg unverschobene t in to (»zu«), uuêt (»weiß«), luttila (»lützel, klein«) oder der Nasalschwund vor Dentalen z.B. in ûsere (»unsere«) oder ôdre (»andere«). Der Beweis dafür, daß eine oberdeutsche Vorlage niederdeutsch eingefärbt wurde, liegt in den hyperkorrekten Formen vor wie urhettun – althochdeutsch urheizzo (»Herausforderer«) oder huitte – althochdeutsch hwizze (»weiße«). Hier nämlich entsprechen die geschriebenen Doppelkonsonanten tt nicht etwa dem niederdeutschen Lautstand, sondern erklären sich als mechanische Umsetzung der korrekten oberdeutschen Geminaten zz, denen im Niederdeutschen einfaches t entspräche.“

Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, Seite 127

Georg Baesecke stellte zur Veranschaulichung der mischsprachlichen Einfärbungen dem überlieferten Text eine rein althochdeutsche Übertragung gegenüber, exemplarisch die Verse 1–3 (Korrekturen von Schreibfehlern in Kursiv):

Ih gihorta daz sagen,
daz urhizzun einon muozin,
Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun zueim.

Die Entstehung des ursprünglichen Hildebrandsliedes wird, da in der gotischen Sprache die im Langobardischen nachgewiesene Namenendung auf „-brand“ fehlt, in Oberitalien angesetzt. Von den Langobarden kam das Hildebrandslied vermutlich in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts (770–780) nach Bayern und von dort nach Fulda. Helmut de Boor fasste den Weg der Überlieferung zusammen und folgerte, dass anhand der Grundlage einer gotisch-langobardischen Originalschrift eine altbairische Eindeutschung erfolgte. Nach der Übernahme in Fulda erfolgte die altsächsische Einfärbung und hiernach die heute überlieferte letzte Eintragung.[7]

Aufbau

Der Aufbau des Liedes ist schlicht und klar sowie durch die Verwendung altepischer Formen bewusst künstlerisch verfasst und beabsichtigt besondere Stilmittel. Exemplarisch für die altepischen Formen ist die Eröffnung der einleitenden Handlung im Vers 1 Ik gihorta dat seggen. Diese Form findet sich parallel in anderen germanischen Literaturen[8] und im althochdeutschen Kontext in der Eröffnung des Wessobrunner Gebetes in der Weise: Dat gafregin ih mit firahim.., „Das erfrug ich bei den Menschen“.[9] Ebenfalls sind Gestaltungsmittel erkennbar, wie sie in der übrigen germanischen Heldendichtung geläufig sind, beispielsweise im Abvers (66) durch die Form huitte scilti als strahlender, oder leuchtender Schild in der konkreten Zweikampfsituation. Des Weiteren in der Form garutun se iro suert ana (Vers 5) vergleichend mit Verse 13–14 des altenglischen Hengestlied; in der Weise gyrde hine his swurde.[10] Die besonderen Stilmittel sind zum einen Pausen und zum anderen der Stabreim in der Prosodik. Die Versmetrik zeigt sich exemplarisch und idealtypisch in der Phrase des dritten Verses:

Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem

Die Regeln des Stabreimverses werden jedoch durch die Verwendung von Prosazeilen (Verse 33–35a) und Endreimbindungen vielfach nicht berücksichtigt. Ebenfalls finden sich Störungen im Anlaut und in einigen Abversen Doppelstäbe (V.18 heittu hadubrant), sowie zweifache Stabreime in der Form »abab«. Des Weiteren weist die Prosodik, analog zum ebenfalls aus dem Fuldaer Kontinuum stammenden altsächsischen Heliand, den Hakenstil auf, der Übernahme des stabenden Anlautes in die Hebung des folgenden Anverses. Der Aufbau des Liedes lässt sich wie folgt schematisch umfassen:

  1. Einleitende Handlung
  2. Erste Dialogsequenz
  3. Handlung, kurz zur Mitte des Textes (Vers 33–35a)
  4. Zweite Dialogsequenz
  5. Abschließende Handlung, Zweikampf

Die innere Gliederung des Dialogteils wird in der Forschung, respektive der älteren, entgegen dem Gesamtaufbau des Textes unterschiedlich gewertet und ist umstritten. Dies hat zu unterschiedlichen, beziehungsweise zu untereinander abweichenden Editionen geführt;[11] insbesondere durch die Annahme, dass die Verse 10f., 28 f., 32, 38, 46 unvollständig seien, und besonders die Verse 46f. die Anmutung des Dialogs vom inneren Zusammenhang nachteilig beeinträchtigten. Daher wurde teilweise der Wortlaut textkritisch bearbeitet und die Versfolge in der Zuweisung des jeweiligen Protagonisten modifiziert.[12] Die neuere Forschung geht mit dem Korpus konservativer um, und misst der überlieferten Version eine bewusste künstlerische Form bei. Lediglich die Verse 46–48 werden heute von der überwiegenden Zahl der Forscher Hadubrand zugeschrieben, und die Platzierung nach dem Vers 57 befürwortet. In der folgenden Tabelle werden anhand der Editionen von Steinmeyer, Baesecke und De Boor[13] vergleichend textkritische Eingriffe gegenübergestellt:[14]

Steinmeyer Baesecke De Boor
Hild. 11 – 13 Hild. 11 – 13 Hild. 11 – 13
Had. 15 – 29 Had. 15 – 29 Had. 15 – 29
Hild. 30 – 32 +35b Hild. 30 – 32 +35b Hild. 30 – 32
Had. 37 – 44 Had. 37 – 44 Had. 46 – 48
Hild. 49 – 57 Hild. 46 – 48 Hild. 35b
Had. 46 – 48 Had. fehlt Had. 37 – 44
Hild. 58 – 62 Hild. 49 – 57 Hild. 49 – 62
Had. fehlt
Hild. 58 – 62

Historische Hintergründe

Oströmischer Solidus: Odoaker im Namen Kaisers Zenon.

Zeitlich dürfte die Handlung im 5. Jahrhundert einzuordnen sein (Heldenalter). Als Hinweis hierfür dienen die Personen, die im Text angeführt werden: Odoaker (Otacher Vers 18, 25), der gegen den Ostgotenkönig Theoderich den Großen (Theotrich Vers 19, Detrich Vers 23, Deotrich Vers 26) kämpfte. In Vers 35 wird der Herr (Gefolgsherr) der Hunnen Huneo truhtin genannt; vermutlich handelt es sich dabei um Attila. Odoaker war ein Germane vom Stamme der Skiren und hatte im Jahre 476 den letzten weströmischen Kaiser Romulus Augustulus abgesetzt; daraufhin riefen ihn seine Truppen zum König Italiens (rex Italiae) aus. In der germanischen Heldensage wurde Theoderich, ausgehend von den kurzen, episodischen Liedformen, zum Dietrich von Bern (Verona) der heute überlieferten Epik tradiert. Attila wurde später der Etzel/Atli aus dem deutschen und nordischen Nibelungenkontext. Hinter der Figur des Hildebrand wurde von der älteren Forschung (Müllenhof, Heusler) der historische ostgotische Heerführer Gensimund gesehen. Rudolf Much gab schon im frühen 20. Jahrhundert den Hinweis auf Ibba oder Hibba, der bei den zeitgenössischen Historiographen wie Jordanes als Militär Theoderichs erfolgreich operierte.[15]

Nach Much und weiteren Forschern nach ihm wurde Ibba als Kurzform oder Kosename von Hildebrand vermutet mit dem Hinweis, dass die „Ibba“ – ebenso wie die Endung „-brand“ – im Gotischen nicht nachweisbar sei. Damit würden die Passagen des Liedes bezüglich des jahrzehntelangen Fernbleibens Hildebrands von Frau und Kind mit der Flucht Theoderichs (Ibba/Hildebrand im Gefolge) ihren historischen Grund in der Rabenschlacht finden, zum anderen Ibba/Hildebrand, aufgrund des Namens vermutlich fränkischer Herkunft, ein Gefolgsmann des Theoderich, der sich durch Treue einen hohen Rang in der ostgotischen politisch-militärischen Nomenklatur erworben hat. Dass der Zweikampf zwischen den zwei Heeren aus der verworrenen politischen Situation heraus gegeben war, in der es zu solchen Konfrontationen von nahen Verwandten kam, ist vergleichend historisch belegt. Diese Erfahrungen wurden demnach schon als Bestandteil der langobardischen Urform im Lied reflektiert.

Schluss

Da der Schluss der Handlung nicht überliefert ist, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden, ob das Ende tragisch gestaltet war. Man kann aber davon ausgehen, denn der Text zielt in seiner dramaturgischen Komposition auf die Klimax des Zweikampfes hinaus. Durch die psychologische Gestaltung des Wortwechsels zwischen Vater und Sohn; Hildebrands Zwiespalt zwischen dem väterlichen Versuch der Zuwendung und Annäherung, und der beibehaltenden Wahrung seiner Ehre und selbstverständlichen Position als Krieger spitzt sich die Tragik der Handlung zu. Zeugnis davon gibt das sogenannte „Hildebrands Sterbelied“ in der altnordischen Fornaldarsaga Ásmundar saga kappabana aus dem 13. Jahrhundert. Das Sterbelied ist ein fragmentarisch erhaltenes Lied im eddischen Stil innerhalb des Prosatextes der Saga.[16] In sechs unvollständigen Strophen, besonders in der vierten, beklagt Hildibrand retrospektiv den Kampf mit dem Sohn und dessen tragischen Tod:[17]

„Liggr þar inn svási at hǫfði,
eptirerfingi, er ec eiga gat;
óviliandi aldrs syniaðag.“

Dort liegt mir zu Häupten, der einzige Erbe,
der mein eigen ward; wider Willen
ward ich sein Töter.

Grundtext: Gustav Neckel, Hans Kuhn 1983. Übertragung: Felix Genzmer, 1985.

Im deutschen Jüngeren Hildebrandslied siegt ebenfalls der Vater, aber die beiden erkennen einander rechtzeitig. Dieser Text ist deutlich hochmittelalterlich geprägt, indem der Zweikampf vom Wesen her die Form des ritterlichen Turniers zeigt, in der Ausprägung eines quasi sportlichen Wettkampfes. Eine spätere Variante (in Deutschland erst in Handschriften zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert erhalten) bietet allerdings eine versöhnliche Variante an: Mitten im Kampf wenden sich die Streitenden voneinander ab, der Sohn erkennt den Vater, und sie schließen sich in die Arme. Diese Version endet mit einem Kuss des Vaters auf die Stirn des Sohnes und den Worten: „Gott sei Dank, wir sind beide gesund.“ Schon im 13. Jahrhundert ist diese versöhnliche Variante aus Deutschland nach Skandinavien gelangt und dort in die Thidrekssaga eingeflossen (älteste erhaltene Handschrift schon um 1280), einer thematischen Übertragung deutscher Sagen aus dem Kreis um Dietrich von Bern. In der Thidrekssaga wird der Ausgang des Kampfes so geschildert, dass, nachdem sich Vater und Sohn erkannt haben, beide mit Freuden zur Mutter und Ehefrau zurückkehren. Insgesamt ist, im Vergleich mit den späteren Interpolationen, die Tragik die größere und dem germanisch-zeitgenössischen Empfinden entsprechender, wenn der Vater seinen Sohn erschlägt – er löscht damit seine Familie, beziehungsweise Geschlechtslinie aus.

„In drei außergermanischen Sagen liegt diese individuell geprägte Fabel vor: der irischen von Cuchullin und Conlaoch, der russischen von Ilja und Sbuta Sokolniek, der persischen von Rostem und Suhrab.“

Andreas Heusler, „Hildebrand“ in RGA 1, Band 2

Aufgrund der inhaltlichen Ähnlichkeit wird diese Tragödie oft mit der Geschichte von Rostam und Sohrab aus dem Schāhnāme, dem im 10. Jahrhundert entstandenen iranischen Nationalepos von Firdausi, verglichen. In diesem mit mehr als 50.000 Versen umfangreichsten Epos der Weltliteratur wird unter anderem auch von dem Kampf zwischen dem Vater Rostam und seinem Sohn Sohrab berichtet. Rostam, der seine Ehefrau bereits vor der Geburt seines Sohnes verlassen hat, hinterließ ihr seinen Armreif, den sie der Tochter oder dem Sohn Rostams als Erkennungszeichen geben möge. Sohrab, der sich gerade volljährig geworden auf die Suche nach seinem Vater begibt, wird in einen Zweikampf mit seinem Vater mit tödlichem Ausgang verwickelt. An dem Sterbenden entdeckt Rostam den Armreif und erkennt, dass er seinen eigenen Sohn erschlagen hat. Friedrich Rückert hat diesen Teil aus dem Schāhnāme, der einen der Höhepunkte des Epos darstellt, mit seiner 1838 erschienen Nachdichtung Rostem und Suhrab im deutschen Sprachraum bekannt gemacht.[18] Während bei Firdausi der Vater seinen Sohn erdolcht, erschlägt im Oidipus Tyrannos des Sophokles der Sohn seinen Vater Laios. Die verschiedenen Parallelen können einerseits durch eine indogermanische Ursage erklärt werden, die den dichterischen Gestaltungen jeweils zugrunde läge; zum anderen kann in manchen Fällen auch eine direkte Beeinflussung angenommen werden.[19] So ging der Germanist Hermann Schneider bei dem Motiv von einer Wandersage oder Weltnovelle aus. Schließlich ist eine Erklärung durch universell wirksame Archetypen möglich, die auf psychische und soziale Grundstrukturen zurückgeführt werden können, wie sie u. a. von Carl Gustav Jung, Karl Kerényi, Claude Lévi-Strauss und Kurt Hübner untersucht wurden. Die Brüder Grimm nennen den Text in ihrer Anmerkung zu dem Märchen Der treue Johannes sowie zu dem Schwank Der alte Hildebrand im Hinblick auf mögliche Untreue der daheim gebliebenen Ehefrau.

Rezeption in der Lyrik des 19. Jahrhunderts

Nach der Strophenform des Hildebrandsliedes wurde die sogenannte Hildebrandsstrophe benannt, welche besonders im frühen 19. Jahrhundert z.B. bei Heinrich Heine oder Joseph von Eichendorff äußerst beliebt war. Da es sich bei dieser Strophenform jedoch anders als beim Original um eine vierversige Version handelt, bezeichnet man sie auch als halbe Hildebrandsstrophe. Ein berühmtes Beispiel für einen Vertreter dieser Strophenform ist Eichendorffs Gedicht Mondnacht.[20]

Literatur

Faksimile

Ausgaben und Übersetzungen

Bibliographien, lexikalische Abhandlungen und Einzelaspekte

  • Helmut de Boor: Die Deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung. In: Geschichte der deutschen Literatur Band 1. C. H. Beck, München 1979.
  • Klaus Düwel: Hildebrandslied. In: Kurt Ruh u. a. (Hrsg.): Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Band 3. Walter de Gruyter, Berlin/New York 1981, ISBN 3-11-008778-2.
  • Klaus Düwel, Nikolaus Ruge: Hildebrandslied. In: Rolf Bergmann (Hrsg.): Althochdeutsche und altsächsische Literatur. de Gruyter, Berlin/Boston 2013, ISBN 978-3-11-024549-3, S. 171–183.
  • Elvira Glaser, Ludwig Rübekeil: Hildebrand und Hildebrandslied. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 14, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016423-X, S. 554–561. (einführender Fachartikel)
  • Wolfgang Haubrichs: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1: Von den Anfängen zum hohen Mittelalter. Teil 1: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). Athenäum, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-610-08911-3.
  • Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. DTV, München 1987.
  • Helmich van der Kolk: Das Hildebrandslied. Amsterdam 1967.
  • Rosemarie Lühr: Studien zur Sprache des Hildebrandliedes. Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B: Untersuchungen, 22. Peter Lang, Frankfurt am Main/Bern 1982, ISBN 3-8204-7157-X.
  • Oskar Mitis: Die Personen des Hildebrandliedes, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 72. Jg. 1953/54, S. 31–38 (Digitalisat)
  • Robert Nedoma: Þetta slagh mun þier kient hafa þin kona enn æigi þinn fader – Hildibrand und Hildebrandsage in der Þiðreks saga af Bern. Francia et Germania. Studies in Strengleikar and Þiðreks saga af Bern, ed. by Karl G. Johansson, Rune Flaten. Bibliotheca Nordica 5. Novus, Oslo 2012, S. 105–141, ISBN 978-82-7099-714-5.
  • Klaus von See: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Athenäum, Wiesbaden 1971 (Reprint 1981), ISBN 3-7997-7032-1.
  • Rudolf Simek, Hermann Pálsson: Lexikon der altnordischen Literatur. Die mittelalterliche Literatur Norwegens und Islands. Kröners Taschenausgabe 490. Kröner, 2. Aufl., Stuttgart 2007, ISBN 3-520-49001-3.
  • Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage. Franke, Bern/München 1961, ISBN 3-317-00628-5.
  • Konrad Wiedemann: Manuscripta Theologica. Die Handschriften in Folio. In: Die Handschriften der Gesamthochschul-Bibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel. Band 1.1. Harrassowitz, Wiesbaden 1994, ISBN 978-3-447-03355-8.

Einzelnachweise

  1. Hellmut Rosenfeld: Gefolgschaftsältester. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geisteswissenschaft, Nr. 26 S. 428 f.
  2. Ausführlich zu Verlust und Wiederentdeckung: Opritsa D. Popa: Bibliophiles and Bibliothieves. The search for the Hildebrandslied and the Willehalm Codex. de Gruyter, Berlin/New York 2003. (Cultural Property Studies.)
  3. Düwel: Sp. 1245
  4. Uecker: S. 60 f. Düwel: Sp. 1243
  5. RGA: S. 558 Proportional geringere Anteile von altsächsischen Morphemen zur wesentlich dominierenden althochdeutschen Lexik (Wortschatz).
  6. Haubrichs: S. 153. RGA: S. 558
  7. de Boor: S. 67.
  8. Ward Parks: The traditionell narrator and the „I heard“ formulas in Old English poetry. In: Anglo-Saxon England 16, 1987, S. 45 ff.
  9. Ulrike Sprenger: Die altnordische Heroische Elegie. de Gruyter, Berlin/New York 1992, S. 114
  10. Theodore Andersson: Die Oral-Formulaic Poetry im Germanischen. In: Heldensage und Heldendichtung im Germanischen Heinrich Beck (Hrsg.). de Gruyter, Berlin/New York 1988, S. 7
  11. Düwel: Sp. 1241
  12. Werner Schröder: Frühe Schriften zur ältesten deutschen Literatur. Steiner, Stuttgart 1999, ISBN 3-515-07426-0, S. 24 ff.
  13. Werner Schröder: a.o.O. S. 26 f.
  14. Basis: Grundtext nach Lesebuch Braune-Ebbinghaus
  15. Hermann Reichert: Lexikon der altgermanischen Personennamen. Böhlau, Wien 1987, S. 835
  16. Daher wurden die Strophen in neuzeitlichen Editionen des Codex Regius und dessen einzelsprachlichen Übertragungen unter diesem Titel aufgenommen.
  17. Simek, Palsson: S. 22, 166.
  18. Friedrich Rückert: Rostem und Suhrab. Eine Heldengeschichte in 12 Büchern. Nachdruck der Erstausgabe. Berlin (epubli) 2010. ISBN 978-3-86931-571-3. (Details)
  19. de Vries: S. 68 ff.
  20. Burkhard Moennighoff: Grundkurs Lyrik. Klett, Stuttgart 2010, S. 47.

Weblinks

Wikisource: Hildebrandslied – Quellen und Volltexte