Mockumentary
Mockumentary ist ein Filmgenre und die Bezeichnung für einen fiktionalen Dokumentarfilm, der einen echten Dokumentarfilm oder das ganze Genre parodiert. Dabei werden oft scheinbar reale Vorgänge inszeniert oder tatsächliche Dokumentarteile in einen fiktiven bzw. erfundenen Zusammenhang gestellt. Es ist ein geläufiges filmisches Genremittel für Parodie und Satire und setzt sich somit oft dafür ein, ein stärkeres medienkritisches Bewusstsein beim Publikum zu schaffen.
Der Begriff ist ein Kofferwort (englisch (to) mock = ‚vortäuschen‘, ‚verspotten‘ (sich mokieren) und documentary = ‚Dokumentarfilm‘).
Nicht als Mockumentary anzusehen sind Pseudo-Dokus (Scripted Reality), bei denen Dokumentationen nicht parodiert, sondern imitiert werden.
Allgemeine Merkmale
Mockumentarys präsentieren sich z. B. oft als historische Dokumentarfilme aus bisher noch unveröffentlichtem Material mit talking heads, die vergangene Ereignisse erörtern oder als Cinéma vérité Leute durch verschiedene Ereignisse zu begleiten scheinen. Auch das relativ neue Genre der Doku-Soaps wird oft durch Mockumentary-Serien parodiert.
Die Darstellungen
- nehmen Bezug auf wahre Gegebenheiten,
- nehmen Bezug auf Gerüchte, mit denen manche Zuschauer bereits vertraut sind,
- müssen in sich konsistent sein, es darf keine erkennbaren internen Widersprüche geben,
- dürfen nur widerlegbare Gegenbeweise erwähnen, andere Gegenbeweise werden nicht erwähnt,
- müssen aktuellen Klischees entsprechen,
- müssen sich einfach und verständlich weitererzählen lassen.
Seltener angewandte Merkmale
- Es werden Interviews mit echten und bekannten Persönlichkeiten gezeigt, aber auch Interviews mit Schauspielern, die erfundene Rollen spielen.
- Die Interviews werden in sehr kurzen, raffiniert ausgewählten Schnipseln aneinandergefügt, sodass sie durch den anderen Kontext eine völlig neue, vom Interviewten nicht beabsichtigte Bedeutung bekommen.
- Bei Interviews in Sprachen, die den Zuschauern fremd sind, stimmen die Untertitel oder die Synchronisation inhaltlich nicht mit den tatsächlichen Aussagen des Interviewten überein.
- Die Präsentation vermischt authentische Ton- und Bildaufnahmen mit unwahren Aussagen, die von einer als autoritativ wahrgenommenen Erzählstimme gesprochen werden und mit abgestimmter Musik untermalt sind.
In Mockumentarys, die vorgeben eine Reportage zu sein oder reportagenartige Bestandteile enthalten, werden auch folgende Stilmittel eingesetzt:
- schlechte, wie improvisiert wirkende Ausleuchtung
- unruhige Kamera, grobe Auflösung, um billiges Filmmaterial vorzutäuschen
- bewusst laienhafte Darstellung seitens der Schauspieler, improvisierte Dialoge
- schlechter Ton
Beispiele
„Schlagzeilen“
- Krieg der Welten, eine Radiosendung von Orson Welles aus dem Jahr 1938
- Smog, eine 1973 vom WDR ausgestrahlte, fiktive „Hier-und-Heute“-Sondersendung, die über die zunehmende Luftverschmutzung im Ruhrgebiet „berichtete“
- Special Bulletin (1983), fiktive Sondersendung über die Erpressung der USA durch eine von Terroristen gebaute Atombombe in Charleston
- Bye Bye Belgium (2006), im Stil einer Sondersendung aufgemachte „Berichterstattung“ über die angebliche Teilung Belgiens
- The Centrifuge Brain Project (D 2011), als Reportage angelegter Kurzfilm über eine wissenschaftliche Untersuchung anhand unmöglicher Kirmesgeräte
Filme
- BBC-Bericht über die Spaghetti-Ernte (GB 1957)
- A Hard Day’s Night (Yeah Yeah Yeah) (GB 1964), eine pseudo-dokumentarische Darstellung der Beatles zur Zeit der Beatlemania
- Woody, der Unglücksrabe (USA 1969), ein Film von Woody Allen, der den Lebenslauf eines unverbesserlichen Kriminellen zeigt
- Die Delegation (BRD 1970), das vorgebliche Filmmaterial eines auf Recherchen zum Thema UFOs tödlich verunglückten Reporters
- Das Millionenspiel (BRD 1970), eine Fernsehshow, in der ein Kandidat eine Woche lang vor Auftragskillern flüchten muss
- Punishment Park (USA 1971), ein dokumentarisch inszenierter Spielfilm von Peter Watkins in dem politische Gegner vorbeugend in Haft genommen und vor die Wahl gestellt werden, langjährige Haftstrafen zu verbüßen oder an einem Wettlauf gegen Sicherheitskräfte in einem „Strafpark“ teilzunehmen.
- F wie Fälschung (F for Fake) (USA 1975), ein Film von Orson Welles, in dem der Kunsthandel parodiert wird
- All You Need Is Cash (GB 1978), ein Fernsehfilm von Eric Idle, der die Geschichte der fiktiven britischen Popgruppe The Rutles angelehnt an den Werdegang der Beatles beschreibt (Fortsetzung 2002: Can't Buy Me Lunch)
- Vertical Features Remake (GB 1978), ein Film von Peter Greenaway Fiktive Rekonstruktion angeblich verschollenen aber wiederentdeckten Filmmaterials anhand der Aufzeichnungen des Autors (Tulse Luper), die zu mehreren sehr verschiedenen Fassungen des Films führt
- Zelig (USA 1983), ein Film von Woody Allen, dessen Held chamäleonhaft Aussehen und Verhalten seines jeweiligen Gegenüber anzunehmen scheint
- This Is Spinal Tap (USA 1984), fiktive Geschichte der Hard-Rock-Band Spinal Tap; der Autor, Schauspieler und Regisseur Christopher Guest hat sich auf dieses Genre spezialisiert und bislang neben This Is Spinal Tap drei weitere derartige Mockumentarys geschaffen
- Bob Roberts (USA 1992), Regie: Tim Robbins, Beschreibung des amerikanischen Wahlkampfs 1990 des gleichnamigen Millionärs
- Das Fest des Huhnes (Österreich 1992), Expeditionsdokumentation über die österreichischen Ureinwohner aus der Sicht eines afrikanischen Ethnologen
- Mann beißt Hund (Belgien 1992), Film über einen Serienmörder, angeblich von einem Reporterteam aufgenommen, das ihn bei den Morden begleitet
- Forgotten Silver (Neuseeland 1995), in diesem Film von Peter Jackson wird der Beginn der Filmgeschichte neu geschrieben
- Hard Core Logo (Kanada 1996), der Film von Bruce McDonald begleitet die fiktive kanadische Punkband Hard Core Logo auf ihrer Reunion-Tour
- Deckname Dennis (BRD 1996/97), Thomas Frickels Film über einen Geheimagenten, der getarnt als TV-Reporter in die lustigen, aber auch erschreckenden Abgründe der deutschen Gesellschaft blickt
- The Last Broadcast (USA 1998), handelt von der Legende des Teufels von New Jersey (Jersey Devil)
- Citizen Cam (Island 1999), Über die Überwachungsgesellschaft, die sich mit dem fiktiven isländischen TV-Sender Humani TV befasst
- Gnadenlos schön (USA 1999), Satire auf Schönheitswettbewerbe.
- Sweet and Lowdown (USA 1999), Film von Woody Allen über den fiktiven zweitbesten Jazz-Gitarristen der Welt Emmet Ray
- Best in Show (USA 2000), Spielfilm von Christopher Guest, der die Hintergründe einer Hundeschau beleuchtet
- Can’t Buy Me Lunch (GB 2002), 25 Jahre nach All You Need Is Cash (1978) kam der zweite Teil, der die Frage stellt: Was wurde aus den Rutles?
- Kubrick, Nixon und der Mann im Mond (Frankreich 2002), Fernsehfilm, der behauptet, die Mondlandung hätte zwar stattgefunden, die Bilder seien aber von Stanley Kubrick in London gefilmt worden
- www.betreuteLoecher.de (D 2002), Film über eine Lochforscherin von Helmut Schulzeck und Maria-Debora Wolf
- Incident at Loch Ness (USA 2004), vorgebliches Making of eines Dokumentarfilmes des Filmemachers Werner Herzog mit dem Titel The Enigma of Loch Ness, dessen Dreharbeiten katastrophal scheitern
- The Naked Brothers Band: Der Film (USA 2005), Film über eine sechsköpfige Kinderrockband um die Brüder Nat und Alex Wolff, geschrieben von Polly Draper
- Borat – Kulturelle Lernung von Amerika um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen (USA 2006), Film über einen kasachischen Fernsehreporter, der in die USA reist, um die dortigen Gebräuche und Gewohnheiten der Menschen zu studieren
- Electric Apricot: Quest for Festeroo (USA 2006), ist ein Film von Primus-Frontmann Les Claypool über die Jamband „Electric Apricot“ bzw. die heutige Musikkultur
- AFR – I sandhed en utrolig løgn (AFR – In Wahrheit eine unglaubliche Lüge) (Dänemark 2007), ist ein Film über die fiktive Ermordung des Ministerpräsidenten von Dänemark, Anders Fogh Rasmussen
- Das Wunder von Wien: Wir sind Europameister (Österreich 2008), ist eine fiktive Dokumentation über den Sieg der Österreichischen Fußballnationalmannschaft bei der Fußball-Europameisterschaft 2008
- Die Eylandt Recherche (Deutschland/Spanien 2008), ist eine halbfiktive Kino-Dokumentation über eine Legende in Duisburg
- Die vierte Art (USA 2009), Science-Fiction-Thriller mit Elementen einer Mockumentary
- Der schwarze Kanal kehrt zurück (Deutschland 2009), ist ein fiktiver Historienfilm, der die Geschichte des Mauerfalls neu schreibt
- Thomas, Thomas (Deutschland 2010), Film über den Stadtarchivar Wolfgang Weber, der behauptet und zu beweisen versucht, dass der Betreiber eines Ayurvedazentrums ein wiedergeborener irischer Bergbaupionier sei
- I’m Still Here – The Lost Year of Joaquin Phoenix (USA 2010), Film über die angeblich geplante Hip-Hop-Karriere von Joaquin Phoenix.
- Vampires (Vampire – Verstecken war gestern) (Belgien 2010), fiktive Dokumentation des bürgerlichen Lebens einer Vampirfamilie und Sozialstudie der Vampir(parallel)gesellschaft in Belgien durch ein Filmteam, mit Alexandra Kamp
- Trollhunter (Norwegen 2010), dokumentiert die Arbeit des einzigen Trolljägers von Norwegen und wie die Regierung die Existenz von Trollen zu vertuschen versucht
- Apollo 18 (USA 2011), erzählt von einer angeblich letzten, geheimen Mondlandung des Apollo-Programms
- Il Mundial Dimenticato (The Lost World Cup) (ITA 2011), Fiktive Dokumentation der angeblich vergessenen Fußball-Weltmeisterschaft von 1942 mit dem Fußball-Nationalteam der Mapuche als Held
- Fraktus (D 2012), Musik-Dokumentation über die fiktive Band „Fraktus“, auf die angeblich die gesamte elektronische Musik zurückgeht (tatsächlich ein Projekt der Comedy-Gruppe Studio Braun)
- This Ain’t California, Mockumentary über die vermeintliche Rollbrett-Szene in der DDR von Marten Persiel (D 2012)
- Image Problem (CH 2012), die beiden Filmemacher Simon Baumann und Andreas Pfiffner machen einen Werbefilm, um das (vermeintlich) ramponierte Image der Schweiz zu verbessern.
- The Great Martian War 1913–1917 (Kanada/GB 2013), ein Film im Stil von Dokumentationen des History Channel, der einen Angriff von Marsianern nach dem Vorbild von Krieg der Welten als Alternativszenario zum Ersten Weltkrieg entwirft
- Ski Jumping Pairs (Japan 2009), Paar-Skispringen, eine technisch unterschätzte Sportart, soll in Turin olympisch werden; ein Film von Riichiro Mashima
- Computer Chess (2013), Dokumentation über eine fiktive Olympiade von Schachprogrammen, die so wirkt, als wenn sie aus dem Jahr 1980 stammen würde
- Öl – Die Wahrheit über den Untergang der DDR (2015), gestellte Dokumentation über angebliche Erdöl-Vorkommen in der Ostsee
- Operation Naked (D 2016), ist ein fiktionaler Film über die Einführung von Datenbrillen und deren Auswirkung auf die Gesellschaft von Regisseur und Autor Mario Sixtus.
Serien
- The Office (GB 2001), in dieser britischen Fernsehserie wird vorgeblich das Leben in einem Großraumbüro der Papier-Großhandelsfirma Wernham Hogg in Slough dokumentiert
- Trailer Park Boys, (Kanada 2001–2007), Mockumentary über Bewohner eines Trailer-Park
- Stromberg (durch The Office inspiriert)
- Reno 911!, eine Parodie auf die Polizeidokumentation COPS
- Alles in Ordnung – Mit dem Wahnsinn auf Streife, eine Parodie auf die Polizeidokumentation Ärger im Revier
- Die 4 da – Kärnten III, Mockumentary über die Wiedervereinigung Österreichs mit Kärnten
- The Naked Brothers Band - Junge Rockstars privat, (USA 2007), Mockumentary über eine Kinderrockband, die Kamera begleitet die jungen Stars überall und nimmt das Starleben mit Satire und Ironie aufs Korn
- Modern Family, US-amerikanische Mockumentary-Comedy mit Ed O’Neill als Familienvater Jay Pritchett
- Parks and Recreation, US-amerikanische Mockumentary-Comedy, die den Arbeitsalltag in der Parks and Recreation-Behörde der fiktiven Stadt Pawnee begleitet
- Pure Pwnage, eine ehemals Internet- jetzt TV-Serie, die das Leben eines Pro-Gamers parodisiert.
- Come Fly with Me (GB 2010), britische Comedy mit Matt Lucas und David Walliams über die Menschen auf einem fiktiven Flughafen
- Schlawiner (Österreich 2011)
- Endlich Deutsch!, WDR 2014
- Producer, südkoreanische Serie von KBS
- People Just Do Nothing (GB 2012 ff), BBC-Serie über den Londoner Piratensender Kurupt FM
- Ellerbeck, (Deutschland 2015), Sitcom über den Alltag der Bürgermeisterin (Cordula Stratmann) einer fiktiven Kleinstadt im Emsland
Weblinks
- Benjamin Moldenhauer: Mockumentarys. Wenn Spaghetti auf Bäumen wachsen . In: einestages. SPIEGELnet GmbH, 7. September 2015, abgerufen am 26. Mai 2016.
Literatur
- Charles L. Cassady: Videohounds Reality Check: Documentaries, Mockumentaries and Related Films. Visible Ink Press, Canton 2007, ISBN 978-1-57859-177-0.
- Craig Hight: Television mockumentary. Reflexivity, satire and a call to play. Manchester Univ. Press, Manchester 2010, ISBN 978-0-7190-7317-5.
- Christian Hißnauer: MöglichkeitsSPIELräume. Fiktion als dokumentarische Methode. Anmerkungen zur Semio-Pragmatik fiktiver Dokumentationen. In: MEDIENwissenschaft, Heft 1/2010.
- Alexandra Juhasz, Jesse Lerner (Hrsg.): F is for Phony. Fake Documentary and Truth’s Undoing. University of Minnesota Press, Minneapolis 2006, ISBN 0-8166-9541-5.
- Carolin Lano: Die Inszenierung des Verdachts. Überlegungen zu den Funktionen von TV-Mockumentaries. Ibidem-Verl. (Film- und Medienwissenschaft, 15), Stuttgart 2011, ISBN 978-3-8382-0214-3.
- Fabian Probst: Filme, die lügen: Mockumentaries. Forgotten Silver als Beispiel einer hybriden Form zwischen Fiktion und Nichtfiktion. In: Kornelia Imesch (Hrsg.): Mit Klios Augen. Das Bild als historische Quelle. Athena-Verlag, Oberhausen 2013, S. 219–236.
- Maren Sextro: Mockumentaries und die Dekonstruktion des klassischen Dokumentarfilms. In: Berliner Schriften zur Medienwissenschaft. Nr. 10/2009, Berlin 2009, ISBN 978-3-7983-2199-1 Online verfügbarer Volltext (PDF; 648 kB).
- Jane Roscoe, Craig Hight: Faking it. Mock-documentary and the subversion of factuality. Manchester/New York 2001, ISBN 0-7190-5641-1.
- Gary D. Rhodes (Hrsg.): Docufictions. Essays on the intersection of documentary and fictional filmmaking. McFarland, Jefferson, NC 2006, ISBN 0-7864-2184-3.