Nürnberger Ärzteprozess

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Karl Brandt (stehend) bei der Urteilsverkündigung

Der Nürnberger Ärzteprozess fand vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 als erster der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen Verantwortliche des Deutschen Reichs zur Zeit des Nationalsozialismus im Nürnberger Justizpalast vor einem amerikanischen Militärgericht (Military Tribunal I) statt.[1] Offiziell wurde der Fall als Vereinigte Staaten vs. Karl Brandt et al. bezeichnet.

Angeklagt waren 20 KZ-Ärzte sowie ein Jurist und zwei Verwaltungsfachleute als Organisatoren von Medizinverbrechen. 14 der Angeklagten waren bereits im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als verantwortlich benannt worden. Einige Täter waren verstorben, hatten Suizid begangen oder waren bereits in den Dachauer Prozessen verurteilt worden. Der Verbleib mancher Täter war unbekannt und Beweismaterial noch nicht verfügbar. Die endgültige Auswahl der Angeklagten orientierte sich deshalb an dem Ziel, führende Vertreter der „staatlichen medizinischen Dienste“ des nationalsozialistischen Staates anzuklagen, um das Wirken des verbrecherischen Systems und nicht nur verbrecherischer Einzelpersonen zu demonstrieren.[2]

Beispielhaft für die Medizinverbrechen des Nationalsozialismus wurden in dem Prozess unfreiwillige Menschenversuche, die Tötung von Häftlingen für die Anlage einer Skelettsammlung (August Hirt) und die Krankenmorde der Aktion T4 behandelt. Nicht alle als verbrecherisch eingestuften medizinischen Versuche und Praktiken des Nationalsozialismus fanden allerdings Raum beim Prozess. Von den 23 Angeklagten wurden am 20. August 1947 sieben zum Tode verurteilt, fünf zu lebenslangen Haftstrafen und vier zu Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren. Sieben Angeklagte wurden freigesprochen.[1]

Rechtsgrundlage und Anklage

Basis der Anklage bildete das Kontrollratsgesetz Nr. 10 welches die Rechtszuständigkeit für diesen Prozess dem Militärgerichtshof Nr. 1 in Nürnberg zuwies (Anordnung Nr. 7 der Militärregierung) und aus dem die Anklageschrift vom 25. Oktober 1946 mit folgenden vier Klagepunkten abgeleitet wurde:[2]

Auf Antrag der Verteidigung und nach Prüfung der Rechtsgrundlage fasste das Gericht den Beschluss, den Anklagepunkt der Verschwörung nicht eigenständig zu verhandeln. Kopien der Klageschrift wurden allen Angeklagten am 5. November 1946 in deutscher Sprache zugestellt. Noch vor Prozessbeginn plädierten die Beschuldigten während einer gerichtlichen Anhörung sämtlich mit „nicht schuldig“. Jedem Beschuldigten wurde ein Rechtsbeistand seiner Wahl gestellt.[2]

Die Angeklagten

Die Angeklagten

Prozessdurchführung und Urteilsverkündung

Richterbank: Von links nach rechts: Harold L. Sebring, Walter B. Beals, Johnson T. Crawford und Victor C. Swearingen

Am 9. Dezember 1946 wurde der Prozess gegen die 23 Angeklagten eröffnet. Den Vorsitz des Gerichts übernahm Walter B. Beals, Oberster Richter des Supreme Court des Staates Washington. Seine Beisitzer waren Harold L. Sebring, Richter des Supreme Court des Staates Florida, und Johnson T. Crawford, ehemaliger Richter des District Court des Staates Oklahoma. Als Ersatzrichter fungierte Victor C. Swearingen, Assistent beim General-Staatsanwalt der USA. Das Verfahren wurde in deutscher und englischer Sprache durchgeführt.[2]

Die Anklagevertretung umriss nach Prozessbeginn zunächst die Vorwürfe gegen die Beschuldigten und untermauerte die Schuldvorwürfe mit Beweisstücken. Ab dem 20. Januar 1947 versuchte die Verteidigung die gegenüber den Beschuldigten vorgebrachten Schuldvorwürfe, ebenfalls durch Vorlage von Beweismitteln, zu entkräften. Neben 32 Zeugen der Anklage wurden während des Prozesses 53 Zeugen der Verteidigung gehört. Insgesamt 1471 Eidesstattliche Erklärungen und sonstige Dokumente, davon allein 901 von der Verteidigung eingebrachte, wurden vor Gericht angenommen. Die Plädoyers von Anklagevertretung und Verteidigung fanden in der Woche ab dem 14. Juli 1947 statt. Am 19. Juli 1947 wurden schließlich noch die Angeklagten selbst gehört. Am 20. August 1947 erfolgte die Urteilsverkündung.[2] Eine Revision war nicht zugelassen.[1]

Die 23 Urteile im Einzelnen

Angeklagter Rang Funktion Schuldig nach Anklagepunkt Urteil

Viktor Brack
SS-Oberführer Oberdienstleiter in der „Kanzlei des Führers II, III, IV Todesstrafe – am 2. Juni 1948 hingerichtet

Karl Brandt
SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Generalkommissar für Kampfstofffragen, Euthanasiebevollmächtigter, Begleitarzt Hitlers II, III, IV Todesstrafe – am 2. Juni 1948 hingerichtet

Rudolf Brandt
SS-Standartenführer Persönlicher Referent des Reichsführers SS, Leiter des Minister-Büros im Reichsinnenministerium II, III, IV Todesstrafe – am 2. Juni 1948 hingerichtet

Karl Gebhardt
Generalmajor der Waffen-SS und SS-Gruppenführer Chefarzt der Heilanstalt Hohenlychen, Oberster Kliniker beim Reichsarzt SS und Polizei, Leibarzt Heinrich Himmlers II, III, IV Todesstrafe – am 2. Juni 1948 hingerichtet

Waldemar Hoven
SS-Hauptsturmführer Lagerarzt KZ Buchenwald II, III, IV Todesstrafe – am 2. Juni 1948 hingerichtet

Joachim Mrugowsky
SS-Oberführer Chef des Hygiene-Institutes der Waffen-SS, Oberster Hygieniker beim Reichsarzt SS II, III, IV Todesstrafe – am 2. Juni 1948 hingerichtet

Wolfram Sievers
SS-Standartenführer Reichsgeschäftsführer des SS-Ahnenerbes und Direktor des Institutes für wehrwissenschaftliche Zweckforschung (eine Unterorganisation des Ahnenerbes) II, III, IV Todesstrafe – am 2. Juni 1948 hingerichtet

Fritz Fischer
SS-Sturmbannführer der Waffen-SS Assistenzarzt in Hohenlychen II, III, IV Lebenslänglich – am 31. Januar 1951 durch den amerikanischen Hochkommissar John Jay McCloy in zehn Jahre Haft umgewandelt, am 1. April 1954 vorzeitig entlassen.

Karl Genzken
SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Chef des Sanitätsamts der Waffen-SS II, III, IV Lebenslänglich – am 31. Januar 1951 in 20 Jahre Haft umgewandelt, am 17. April 1954 vorzeitig entlassen.

Siegfried Handloser
Generaloberstabsarzt Chef des Wehrmachtsanitätswesens und Heeres-Sanitäts-Inspekteur II, III Lebenslänglich – am 31. Januar 1951 in 20 Jahre Haft umgewandelt, im Dezember 1953 aus Krankheitsgründen vorzeitig entlassen

Gerhard Rose
Generalarzt der Luftwaffe Stellvertretender Präsident des Robert-Koch-Institutes für Tropenmedizin II, III Lebenslänglich – am 31. Januar 1951 in 15 Jahre Haft umgewandelt, am 3. Juni 1955 vorzeitig entlassen.

Oskar Schröder
Generaloberstabsarzt Leiter und Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe II, III Lebenslänglich – am 31. Januar 1951 in 15 Jahre Haft umgewandelt, am 1. April 1954 vorzeitig entlassen.

Hermann Becker-Freyseng
Stabsarzt der Luftwaffe Referent für Luftfahrtmedizin beim Sanitätsinspekteur der Luftwaffe, Abteilungsleiter Luftfahrtmedizinisches Institut II, III 20 Jahre – am 31. Januar 1951 durch den amerikanischen Hochkommissar John Jay McCloy in zehn Jahre Haft umgewandelt, am 20. November 1952 vorzeitig entlassen.

Herta Oberheuser
Ärztin im KZ Ravensbrück, Assistentin von Gebhardt II, III 20 Jahre – am 31. Januar 1951 in zehn Jahre Haft umgewandelt, am 4. April 1952 frühzeitig entlassen

Wilhelm Beiglböck
Stabsarzt der Luftwaffe Oberarzt an der Universitätsklinik Wien II, III 15 Jahre – am 31. Januar 1951 durch den amerikanischen Hochkommissar John Jay McCloy zu zehn Jahren Haft umgewandelt und am 15. Dezember 1951 frühzeitig entlassen

Helmut Poppendick
SS-Oberführer Leitender Arzt im SS-Rasse- und Siedlungshauptamt, Chef des persönlichen Büros im Stabe des Reichsarztes SS und Polizei IV zehn Jahre – am 31. Januar 1951 durch den amerikanischen Hochkommissar John Jay McCloy entlassen

Kurt Blome
Generalarzt Stellvertreter des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti, stellvertretender Leiter der Reichsärztekammer Freispruch

Adolf Pokorny
Sanitätsoffizier (Oberarzt) Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten Freispruch

Paul Rostock
Generalarzt der Reserve Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik Berlin, beratender Arzt der Armee, Amtschef der Dienststelle Medizinische Wissenschaft und Forschung Freispruch

Konrad Schäfer
Unterarzt der Luftwaffe Assistenzarzt chemotherapeutisches Laboratorium Schering AG, Forschungsinstitut der Luftfahrtmedizin, Berlin Freispruch

Siegfried Ruff
Flugkapitän Direktor des Instituts für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt e. V. in Berlin Freispruch

Georg Weltz
Oberfeldarzt Chef des Instituts für Luftfahrt-Medizin in München Freispruch

Wolfgang Romberg
Abteilungsleiter am Institut für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Berlin-Adlershof unter Siegfried Ruff Freispruch

Vollzug der Urteile

Nach der Urteilsverkündung wurden die Verurteilten in das Kriegsverbrechergefängnis Landsberg überführt. Die sieben ausgesprochenen Todesurteile wurden schließlich am 2. Juni 1948 durch den Strang im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg vollstreckt.

Zahlreiche Urteile der Nürnberger Prozesse wurden ab 1950 im Strafmaß erheblich abgemildert, dies betraf auch die Urteile des Ärzteprozesses. Der Straferlass beruhte nicht auf einer Neueinschätzung der Schuld der Verurteilten, sondern auf einer Änderung der politischen Rahmenbedingungen.

Medizinische Ethik

Der Nürnberger Ärzteprozess führte zu einer Rückbesinnung von einer kollektiven zu einer individuellen medizinischen Ethik. Typische Bestandteile der kollektivistischen Medizin des Nationalsozialismus wie die NS-Rassenhygiene wurden allenfalls am Rande des Prozesses gestreift. Im Nürnberger Kodex wurde der Rahmen für zukünftige medizinische (und psychologische) Menschenversuche festgelegt, der auch heute noch Gültigkeit besitzt.

Dokumentation des Prozesses im Buch

Schon die Berichterstattung über den Prozess geriet zum Problem: Als die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern einen Mediziner suchte, der die in dem Prozess zu Tage gekommenen Fakten zu einer Dokumentation zusammenstellen sollte, fand sich kein prominenter Wissenschaftler. Nach einigem Suchen fiel die Wahl auf den noch unbekannten Alexander Mitscherlich, der soeben erst Privatdozent geworden war, den Studenten Fred Mielke und Alice Ricciardi. 1949 erschien ihre Dokumentation, die auch heute noch grundlegende Angaben zu den Medizinverbrechen des NS-Staates bietet – aber ebenso wie der Nürnberger Ärzteprozess nur einen Teil der NS-Medizinverbrechen behandelt. Diese Dokumentation wurde trotz Papierknappheit und den damaligen Einschränkungen in einer relativ hohen Auflage von 10.000 Exemplaren gedruckt, die aber nur an Ärzte ging. Erst 1960 erschien eine allgemein verfügbare Auflage im Fischer Verlag.

1996 veranstaltete die IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung) eine internationale Tagung zum 50. Jahrestag des Nürnberger Ärzteprozesses mit dem Kongressband Medizin und Gewissen und beschloss auf der Basis der Ergebnisse dieses Kongresses den „Nürnberger Kodex (1997)“.

Die Publikation der vollständigen Dokumentation, der Wortprotokolle, des Anklage- und Verteidigungsmaterials erfolgte erst 1999 durch den Saur-Verlag in München. Die Analyse dazu lieferte 2001 Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen. Die Bundesärztekammer weigerte sich, diese Edition finanziell zu unterstützen. Erst Einzelspenden von 8.000 Ärzten ermöglichten sie.

Eine englische und eine französische Dokumentation, die französische mit vielen Angaben über den Charakter der Angeklagten, erschienen dagegen schon kurz nach Prozessende.

Die Medizinverbrechen im Einzelnen

Unterdruck-, Unterkühlungs- und Meerwasserversuche

Vorgeblich ging es bei diesen Versuchen der Luftwaffe um luftfahrtmedizinische Fragestellungen, nämlich die extremen Bedingungen nachzustellen, denen Militärpiloten ausgesetzt sind, wenn sie in großer Höhe die Maschine verlassen, in kaltem Wasser notlanden beziehungsweise sich in Rettungsbooten mit ausreichend Trinkwasser versorgen müssen. Die Unterdruck-, Unterkühlungs- und Meerwasserversuche wurden im KZ Dachau durchgeführt.

Die Unterdruckversuche wurden von Februar 1942 bis Mai 1942 in drei Versuchsserien durchgeführt. Bei diesen Versuchsreihen wurden etwa 200 KZ-Häftlinge Versuchsopfer, von denen zwischen 70 und 80 bei den Versuchen verstarben. Diese Todesfälle waren keine Unfälle, sondern geplanter Teil der Experimente. Angeklagt waren in diesem Zusammenhang Romberg, Ruff und Weltz. Die Unterdruckversuche knüpften dort an, wo Ruff und Romberg ihre Selbstversuche abgebrochen hatten. Bei ihnen wurde in einer Unterdruckkammer ein Fall aus 21.000 Metern Höhe simuliert, die körperlichen Reaktionen bis zum Tod der Versuchspersonen wurden aufgezeichnet. Es bestand während des Prozesses kein Zweifel daran, dass die stattgefundenen Versuche als unmenschlich und verbrecherisch anzusehen waren. Zweifel bestanden aber, ob Romberg, Ruff und Weltz über alle Details der Menschenversuche ausreichend unterrichtet waren, wie sie zu ihrer Verteidigung angaben. Sigmund Rascher, dem die konkrete Durchführung und Organisation der Versuche oblag, war bereits verstorben. Romberg etwa hatte zwar während eines tödlichen Versuches Raschers das EKG abgelesen und so den – durch Abbruch des Versuches vermeidbaren – Tod des Häftlings verfolgt, sah sich aber nicht zum Eingreifen in der Lage. Dem Gericht reichten die Indizien für eine Verurteilung von Romberg, Ruff und Weltz nicht aus. Alle drei wurden daher aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Bei den Unterkühlungsversuchen, die von August 1942 bis Dezember 1942 stattfanden, wurden die Häftlinge in Eiswasser getaucht und ebenfalls deren körperliche Reaktionen bis zum Eintritt des Todes aufgezeichnet. Im Rahmen dieser Versuche wurden bis zu 90 Häftlinge ermordet. Da die Ausführenden der Versuche – Ernst Holzlöhner, Erich Finke und Sigmund Rascher – 1945 verstorben waren, mussten sich die Auftraggeber beziehungsweise Organisatoren dieser Versuche im Ärzteprozess verantworten, nämlich Karl und Rudolf Brandt, Handloser, Schröder, Gebhardt, Mrugowsky, Poppendick, Sievers, Becker-Freyseng und Weltz.

Bei den Meerwasserversuchen ging es um die Problemstellung, abgestürzte Piloten in Rettungsbooten mit ausreichend Trinkwasser zu versorgen. Zur Auswahl standen zwei Lösungen: eine echte Entsalzung mittels Chemikalien (Konrad Schäfer), oder sogenanntes Berka-Wasser, bei welchem der Salzgeschmack überdeckt und durch die Zuführung von Vitamin C angeblich die Salzausscheidung verbessert wurde. Der Streit zwischen dem Technischen Amt (Berka-Wasser) und der Sanitätsinspektion der Luftwaffe (Entsalzung) sollte durch Menschenversuche entschieden werden. Nach einer Besprechung am 19. und 20. Mai 1940 bekam Hermann Becker-Freyseng den Auftrag für die Experimente. Oskar Schröder schlug mit Hinweis auf die Experimente Raschers Häftlinge als Versuchspersonen vor. Dritter Beteiligter war Wilhelm Beiglböck. Die „freiwilligen“ 44 Versuchspersonen wurden unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf Vorschlag Arthur Nebes unter Sinti und Roma aus dem Konzentrationslager Buchenwald ausgewählt und nach Dachau überstellt. Zwischen Juli 1944 und September 1944 wurden die Meerwasserversuche durchgeführt.

Zu den unfreiwilligen Versuchspersonen gehörten: Jakob Bamberger,[3] Karl Höllenreiner,[4] Josef Laubinger[5] und Ernst Mettbach.[6]

Becker-Freysing wurde zu zwanzig Jahren verurteilt, die 1951 in zehn Jahre Haft umgewandelt wurden. Beiglböck erhielt fünfzehn Jahre, die 1951 zu zehn Jahren Haft gemildert wurden. Schröder wurde zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, auch diese Strafe wurde 1951 in fünfzehn Jahre Haft abgemildert. Für die Verurteilung war ausschließlich die Nichtfreiwilligkeit des Versuches entscheidend. Eine 1948 eingesetzte Kommission der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, bestehend aus den Professoren Curt Oehme (Heidelberg, Vorsitzender), Heilmeyer (Freiburg) und Schoen (Göttingen) untersuchte noch einmal die Grundlage des Urteils. Sie bestätigte die Nichtfreiwilligkeit, verneinte aber die verbrecherische Natur der Experimente, bei denen keine Versuchsperson zu Schaden gekommen sei. Das Gutachten wurde an John McCloy weitergeleitet.

Fleckfieber-Impfstoffversuche

Die Experimente wurden im KZ Buchenwald und KZ Natzweiler-Struthof durchgeführt. Quellengrundlage für die ab Januar 1942 durchgeführten Experimente in Buchenwald sind das Stationstagebuch von Erwin Ding-Schuler, Aussagen von europäischen Medizinern, die im KZ inhaftiert waren sowie Häftlingen wie des Häftlingsschreibers Eugen Kogon und des Oberpflegers der Fleckfieberstation Arthur Dietzsch. Vorgeblich entwickelte die SS hier einen eigenen Impfstoff gegen Fleckfieber, real testete sie nur bekannte Impfstoffe. Unterschiedliche Impfstoffe wurden an 392 Versuchspersonen getestet, eine Kontrollgruppe von 89 Personen blieb ohne Impfschutz. 383 Personen erkrankten, 97 verstarben, davon 40 aus der Kontrollgruppe. An diesen Versuchsreihen waren auch Gerhard Rose und Joachim Mrugowsky beteiligt. Die Experimente wurden auch im KZ Sachsenhausen durchgeführt. Der behandelnde Arzt war Arnold Dohmen, der sich schon lange mit den Erregern des Fleckenfiebers beschäftigte.

Im KZ Natzweiler wurden von 1943 bis zur Befreiung 1944 ebenfalls Fleckfieber- aber auch Gelbsuchtexperimente durchgeführt. Initiator der Versuche war Eugen Haagen.

Sulfonamid, Knochentransplantation- und Phlegmonversuche

Leo Alexander erläutert am 20. Dezember 1946 während des Nürnberger Ärzteprozesses an Maria Broel Plater, die Häftling im KZ Ravensbrück war, einige Experimente der pseudomedizinischen Menschenversuche.

Die Sulfonamid-Experimente im KZ Ravensbrück fanden von Juli 1942 bis August 1943 statt. Der Tod des Reichsprotektors von Böhmen und Mähren Reinhard Heydrich nach einem tschechischen Attentat rückte das Problem in den Mittelpunkt, dass Wundinfektion die Hauptursache für die Verluste deutscher Soldaten an der Ostfront war. Der behandelnde Arzt Karl Gebhardt, ein Schulfreund Himmlers, der auch Heydrich versorgte, hatte zu sehr auf Amputationen der infizierten Gliedmaßen gesetzt und hielt wenig von der neuen Sulfonamiden-Medizin. Gebhardt erhielt nun den Auftrag in Versuchsserien nachzuweisen, dass Sulfonamide für die Behandlung von Wundinfektionen unzureichend seien. Als Versuchspersonen für diese Experimente dienten gesunde polnische Frauen aus dem KZ Ravensbrück. Ziele der Versuchsreihen waren die Analyse von Gasbrand, Prüfung der bisher bekannten therapeutischen Mittel und die Analyse von „banalen“ Wundinfektionen unter Behandlung der herkömmlichen Chirurgie und den neuen Sulfonamiden. Neben den im Ärzteprozess angeklagten Ärzten Fischer und Oberheuser waren auch die Mediziner Schiedlausky und Rosenthal beteiligt.

Die Versuchsreihen, bei denen es zu mehreren Todesfällen kam, wurden jeweils in zwei Gruppen geteilt:

  1. Infizierungsoperationen: Den Versuchspersonen wurden die Waden aufgeschnitten und die Wunde mit Holz- und Glassplittern infiziert.
  2. Aseptische Operationen: Sie unterteilten sich in Knochen-, Muskel-, und Nervenexperimente.

Lost- und Phosgenversuche

Lost (Senfgas) und Phosgen sind Chemiewaffen. Menschenversuche mit diesen Substanzen wurden 1942/43 im KZ Natzweiler-Struthof durch den Anatomie-Professor August Hirt und den Biologie-Professor Otto Bickenbach durchgeführt.

Skelettsammlung für die „Reichsuniversität Straßburg“

Im August 1943 ermordete die SS in der Gaskammer des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof (Elsass) 86 jüdische Frauen und Männer, die zuvor von den beiden Anthropologen Bruno Beger und Hans Fleischhacker im KZ Auschwitz-Birkenau herausgesucht worden waren. Auftraggeber des Verbrechens waren der Anatomie-Professor August Hirt („Reichsuniversität Straßburg“) und der Geschäftsführer der SS-Wissenschaftsorganisation „AhnenerbeWolfram Sievers. Geplant war, die im Anatomischen Institut vorhandene Schädelsammlung in propagandistischer Absicht zu erweitern: Im Sinne der rassistischen NS-Ideologie sollten die Skelette in künftigen „judenfreien“ Zeiten der Forschung und Lehre als Anschauungsobjekte dienen. Wegen technischer Probleme konnte die Ausstellung nicht verwirklicht werden. 16 der konservierten Leichen wurden nach der Befreiung Straßburgs vollständig vorgefunden, die übrigen waren zerstückelt. Die Überreste sind auf dem jüdischen Friedhof im Straßburger Stadtteil Cronenbourg beigesetzt worden. Sie wurden 2004 identifiziert.[7]

Euthanasieprogramm

Die Euthanasiemorde oder die „Euthanasie-Aktion“ waren die systematische massenhafte Ermordung von mehr als 100.000 behinderten Menschen durch die Zentraldienststelle T4. Neben rassenhygienischen Vorstellungen der NS-Eugenik wurden kriegswirtschaftliche Erwägungen zur Begründung herangezogen. Nach anhaltenden kirchlichen Protesten wurden die verheimlichten Tötungen nach erfolgter „Leerung“ vieler Krankenabteilungen nicht mehr zentral, sondern ab 1942 dezentral, weniger offensichtlich fortgesetzt.

Die im NS-Staat betriebene sogenannte „Euthanasie“ geht auf die schon in den 1920er-Jahren entwickelte Idee einer „Rassenhygiene“ zurück und steht im Zusammenhang mit dem in der nationalsozialistischen Ideologie festgelegten Endziel einer „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von sogenannten „Erb- und Geisteskranken, Behinderten und sozial oder rassisch Unerwünschten“.

Nach landesweitem Erfassen mittels auszufüllendem einseitigen Kurz-Fragebogen pro Patient, der besonders auf die Arbeitsfähigkeit abhob, wurden durch die Justiz als „Gutachter nach Aktenlage“ Ärzte beauftragt. Die Opfer wurden nach Verlegung zunächst in einigen wenigen Anstalten durch unterschiedliche Methoden getötet. Nach der Besetzung Polens wurden Gaskammern mit Kohlenstoffmonoxid zu Massenmorden verwendet.

Es gab dabei vier Phasen:

  • 1939–1945: mindestens 5.000 Opfer der sogenannten „Kindereuthanasie“ ("erbkranke" und kognitiv oder körperlich beeinträchtigte Säuglinge und Kinder)
  • 1940–1941: Opfer wurden über 70.000 Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten sowie Heimen für Menschen mit Behinderung. Psychiatrische staatliche Landeskrankenhäuser dienten als Zwischenstation auf dem Weg in die Mordanstalten. Nach Einstellung der „Aktion T4“ im August 1941 durch die Berliner Zentrale wurde die „Erwachseneneuthanasie“ dezentral weitergeführt.
  • 1942–1945: Etwa 20.000 KZ-Häftlinge wurden umgebracht. Die Tötung kranker und nicht mehr arbeitsfähiger Häftlinge von Konzentrationslagern in drei der Mordanstalten der „Aktion T4“ (Bernburg, Sonnenstein und Hartheim) wurde nach dem hierfür verwandten Aktenzeichen als Aktion 14f13 bezeichnet.
  • 1942–1945: Mit der Aktion Brandt, benannt nach Hitlers Begleitarzt, wurden Heil- und Pflegeanstalten für den steigenden Bedarf von Ausweichkrankenhäusern in Beschlag genommen. Die Patienten wurden in besonderen Anstalten konzentriert, die in der Mitte des Reiches oder im Osten lagen. Durch gezielte Tötungen mit überdosierten Medikamenten oder Verhungernlassen durch Unterernährung wurde deren Zahl drastisch reduziert. Diese Phase bedeutete die Ermordung von etwa weiteren 30.000 Menschen.

Literatur

  • Karsten Linne (Hrsg.): Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld. Im Auftrag der Hamburger Stiftung Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts herausgegeben von Klaus Dörner. Einleitung von Angelika Ebbinghaus. Deutsche Ausgabe, Mikrofiche-Edition. Saur, München 1999, ISBN 3-598-32020-5 (381 Fiches mit Erschließungsband, Erstveröffentlichung der vollständigen Akten).
  • Alice Platen-Hallermund: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Aus der Deutschen Ärztekommission beim Amerikanischen Militärgericht. Verlag der Frankfurter Hefte, Frankfurt am Main 1948 (Neuauflagen, Reprint der Erstausgabe von 1948. Psychiatrie-Verlag, Bonn 1993, ISBN 3-88414-149-X; 7 Auflage. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2008 ISBN 978-3-935964-86-9).
  • François Bayle: Croix gammée contre caducée. Les expériences humaines en Allemagne pendant la deuxième guerre mondiale. Vorwort René Piédelièvre. L'Imprimerie nationale, Neustadt (Palatinat) 1950 (nur antiquarisch und nur in französischer Sprache, sehr umfangreich).
  • Information Services Division, Office of the U.S. High Commissioner for Germany (Hrsg.): Landsberg. Ein dokumentarischer Bericht. Verlags-Haus des Amerikanischen Hochkommissars für Deutschland, München 1951.
  • Alexander Mitscherlich, Fred Mielke: Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg. Schneider, Heidelberg 1949 (Diese Auflage war ausschließlich für die Westdeutschen Ärztekammern bestimmt). Neuauflage: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses (= Fischer 332). Fischer, Heidelberg 1960, zahlreiche weitere Auflagen, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  • Jürgen Peter: Der Nürnberger Ärzteprozeß. Im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke (= Schriften aus dem Sigmund-Freud-Institut 2). Lit-Verlag, Münster u. a. 1994, ISBN 3-8258-2112-9 (2. Auflage. ebenda 1998).
  • Wolfgang U. Eckart: Fall 1: Der Nürnberger Ärzteprozess. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952 (= Fischer-Taschenbücher. Die Zeit des Nationalsozialismus 13589). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-13589-3, S. 73–85.
  • Angelika Ebbinghaus, Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen. Aufbau-Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-351-02514-9, Rezensionen bei perlentaucher.de.
  • Ulf Schmidt: Justice at Nuremberg. Leo Alexander and the Nazi doctors' trial (= St. Antony's Series). Palgrave Macmillan, Basingstoke u. a. 2004, ISBN 0-333-92147-X.
  • Paul Julian Weindling: Nazi Medicine and the Nuremberg Trials. From Medical War Crimes to Informed Consent. Palgrave Macmillan, Basingstoke u. a. 2004, ISBN 1-4039-3911-X.
  • Hans-Joachim Lang: Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren. Hoffmann & Campe, Hamburg 2004, ISBN 3-455-09464-3 (Überarbeitete Ausgabe. (= Fischer. Die Zeit des Nationalsozialismus 16895). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-596-16895-8).

Weblinks

Commons: Nürnberger Ärzteprozess – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b c Wolfgang U. Eckart: Fall 1: Der Nürnberger Ärzteprozess. 1999.
  2. a b c d e Alexander Mitscherlich, Fred Mielke (Hrsg.): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses 16. Auflage, durchgesehene Neuausgabe. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-22003-3.
  3. Michail Krausnick: Die Zigeuner sind da. Roma und Sinti zwischen Gestern und heute. Würzburg 1981, S. 156.
  4. Der Nürnberger Ärzteprozess 1946/47. Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition. Walter de Gruyter, 2000. S. 105.
  5. Der Nürnberger Ärzteprozess 1946/47. Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition. Walter de Gruyter, 2000. S. 116. eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  6. Walter de Gruyter: Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition. Walter de Gruyter, 2000, ISBN 978-3-110-96299-4, S. 62. eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  7. Eine Initiative zur Erinnerung an 86 jüdische Opfer eines Verbrechens von NS-Wissenschaftlern die-namen-der-nummern.de.