Pestizid

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Tunnelspritzgerät in einem Weingarten bei der Ausbringung eines Pflanzenschutzmittels. Tunnelspritzvorrichtungen reduzieren die Spritzbrühenverluste mit Hilfe der tunnelförmigen Umhüllung des Rebstockes (mit Rückführung der aufgefangenen Spritzflüssigkeit).

Pestizid (von lateinisch pestis ‚Geißel‘, ‚Seuche‘ und lat. caedere ‚töten‘) ist eine aus dem englischen Sprachgebrauch übernommene Bezeichnung für Chemikalien und Mikroorganismen, mit der als lästig oder schädlich angesehene Lebewesen, Viren und Viroide getötet, vertrieben oder in Keimung, Wachstum oder Vermehrung gehemmt werden können. Im Allgemeinen sind damit Stoffe gemeint, die vom Menschen hergestellt und eingesetzt werden. Im Englischen werden die Begriffe natural pesticides und dietary pesticides geprägt, um von Pflanzen erzeugte Fraßgifte zu bezeichnen.[1]

Pestizide lassen sich einteilen in:

  • die Pflanzenschutzmittel, die zum Schutz von Pflanzen eingesetzt werden;
  • die Biozide, die zum Schutz der menschlichen Gesundheit oder zur Haltbarmachung von Materialien (mit Ausnahme pflanzlicher Lebens- und Futtermittel) – z. B. beim Anstrich von Hauswänden – eingesetzt werden;
  • Tierarzneimittel

Bedeutungen

Im klassischen Verständnis sind Pestizide Mittel zur Bekämpfung tierischer Schädlinge (englisch pests). In diesem Sinn wurde der Begriff hauptsächlich in den englischsprachigen Ländern verwendet. Dabei wurden die Pestizide teilweise mit den Insektiziden gleichgesetzt.

Als Pestizid nach heutigem Verständnis werden sämtliche Pflanzenschutzmittel und sonstige Mittel zur Schädlingsbekämpfung aufgefasst.[2] Auch die Environmental Protection Agency der USA definiert den Begriff in diesem Sinn.[3] Die EU-Richtlinie 2009/128/EG enthält eine Begriffsbestimmung für „Pestizid“, nach der sowohl Pflanzenschutzmittel im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 (Pflanzenschutzmittelverordnung) als auch Biozid-Produkte im Sinne der Richtlinie 98/8/EG über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten darunter fallen.[4] Ebenso erfüllen Medikamente, die in der Nutztierhaltung eingesetzt werden, alle definitorischen Voraussetzungen eines Pestizids.[2]

Wenn in der öffentlichen Diskussion von „Pestizid-Rückständen“ die Rede ist, liegt der Fokus meist auf der Belastung von Lebensmitteln mit Pflanzenschutzmittel-Rückständen. Der Begriff „Pestizid“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch überwiegend negativ besetzt. Christel Fiebinger stellte 2003 fest, dass der Begriff in der Öffentlichkeit mit der „Vergiftung von Boden, Pflanzen und Lebensmitteln“ verbunden wird und teilweise zum „Kampfbegriff gegen die Bauern“ geworden sei.[5]

In den Gesetzestexten der deutschsprachigen Staaten und den deutschen Fassungen der einschlägigen EU-Bestimmungen wird der Begriff „Pestizid“ nur selten verwendet. Die Genehmigung von Wirkstoffen und deren Höchstmengen bei den Zulassungen von Pflanzenschutzmitteln und Bioziden sind in separaten Vorschriften geregelt. Ein bestimmter Wirkstoff kann sowohl in verschiedenen Pflanzenschutzmitteln als auch Bioziden und Tierarzneimitteln vorhanden sein.

In der EU nicht mehr zugelassene Stoffe, wie z. B. Cyanamid, Acetochlor, Tepraloxydim und Cyfluthrin, dürfen nach wie vor hergestellt und exportiert werden.[6] Im Jahr 2018 wurde in den EU-Staaten der Export von 81.615 Tonnen solcher Pestizide genehmigt.[7] Unter den Antragsstellern aus Deutschland befindet sich u. a. das Chemieunternehmen AlzChem sowie die Chemiekonzerne Bayer und BASF.[8] Ebenso geschieht dies in der Schweiz,[9] wobei der Export von Atrazin, Diafenthiuron, Methidathion, Paraquat und Profenophos ab 2021 verboten ist.[10] Von 2012 bis 2019 exportierte die Schweiz mehr als 180 Tonnen Pestizide, welche in der Schweiz verboten sind.[11]

Unterteilung

Pestizide kann man wie folgt einteilen:

Mittel zur Verhütung von Wildschäden:

Weitere Pflanzenschutzmittel:

Wichtige Eigenschaften

Wichtige physikalisch-chemische Eigenschaften von Pestiziden sind:[12]

  • Dampfdruck (hPa, 20 °C), welcher Einfluss auf die Konzentration in der Luft und damit die mögliche ungewünschte Verbreitung über größere Entfernungen besitzt.
  • Wasserlöslichkeit (g/L, 20 °C), welche Einfluss auf die Art der Ausbringung, die Auswaschung im Boden und ins Grundwasser sowie die Aufnahme im Organismus hat.
  • Henry-Konstante (Pa.m3/mol), die das Löslichkeitsverhalten von Gasen in einer Flüssigkeit beschreibt.
  • Log KOW (Oktanol-Wasser-Koeffizient), welcher ein Maß für das Verhältnis zwischen Fettlöslichkeit und Wasserlöslichkeit ist.
  • KOC (Verteilung zwischen organischer Substanz im Boden und Bodenflüssigphase)
  • Halbwertszeit (DT50, Tage), ist ein Maß für die Abbaugeschwindigkeit.
  • Toxizität LD50, ist ein Maß für die Giftigkeit einer Verbindung für verschiedene Organismen.

Wirkung und Auswirkung

Die Wirkungsweise von Pestiziden ist unterschiedlich. Sie wirken u. a. als Wachstumshemmer, Hemmer der Proteinsynthese oder verändern die Permeabilität von Zellmembranen und behindern damit die Erregungsleitung. Teilweise wird auch die Erregungsübertragung an Synapsen gestört.[2] Je nach Wirk- und Hilfsstoff können die Präparate größere oder geringere Schäden an Nicht-Zielorganismen bzw. Ökosystemen verursachen. Bspw. verursacht das bei der Nutztierhaltung (u. a. gegen Magen-Darmparasiten) global eingesetzte Ivermectin erhebliche Schäden an Nicht-Zielorganismen. In diesem Fall werden etliche dungabbauende und -besuchende Arten (u. a. Fliegen, Käfer) gehemmt oder abgetötet, die auf dem Viehdung mit ausgeschiedenen, toxischen Metaboliten des Wirkstoffes in Kontakt kommen.[13] Auf eine vitale Dungfauna als Nahrungsgrundlage wiederum ist eine große Anzahl von Zielarten des Naturschutzes mehr oder weniger stark angewiesen (z. B. Großes Mausohr, Wiedehopf, Blauracke).[14] Pestizide in Seesedimenten, können die Ökosysteme der Seeböden schädigen.[15]

Laut dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung schädigen moderne Pestizide die Insekten schon in 100-fach geringerer Dosis als bei der Zulassung angegeben.[16][17][18] Pestizide sind in der Luft nachweisbar und werden über weite Distanzen verweht.[19] In vielen kleinen Bächen wurden immer wieder starke Pestizidbelastungen gemessen, welche die zugelassenen Grenzwerte teilweise bei weitem überstiegen.[20][21] Selbst in Vogelschutzgebieten werden Pestizide legal eingesetzt, wie z. B. in der Moritzburger Kleinkuppenlandschaft. Dort ist z. B. das Rebhuhn bereits seit 2008 verschwunden.[22] Zusätzlich zum eingesetzten Wirkstoff können die unterschiedlichen Ausbringungsmethoden und Aufwandmengen die ungewünschte Wirkung auf die Umwelt und (sofern gegeben) die Menschen signifikant beeinflussen. Zielorganismen der Pestizide können gegen die Wirkstoffe mehr oder weniger rasch Resistenzen ausbilden.[2]

Nach Untersuchungen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) besteht in Europa nur noch eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass Bürger Pestizidrückständen in Lebensmitteln ausgesetzt sind, die zu negativen gesundheitlichen Folgen führen können.[23] Entsprechend dem Jahresbericht der Behörde, dem die Analyse von rund 88.000 Proben aus 28 EU-Mitgliedstaaten zugrunde liegen, enthalten knapp 96 % der Lebensmittelproben keine Pestizidrückstände oder weisen lediglich Spuren auf, die im Rahmen der gesetzlich zulässigen Werte liegen.[24]

Alternativen zum Einsatz von Pestiziden

Aufgrund der vielfältigen und teils schwer abzusehenden, potenziellen Schäden an Ökosystemen, Nicht-Zielorganismen und Mensch ist der Einsatz von Pestiziden teils ein umstrittenes Politikum.[25] Die Frage nach den Alternativen ist auch deshalb wichtig. Im integrierten Pflanzenschutz sollten Pestizide nur als Ultima Ratio eingesetzt werden. Hier kommt der biologischen Schädlingsbekämpfung eine bedeutende Rolle bei. Die Zielorganismen werden dabei über natürliche Antagonisten (z. B. Schlupfwespen) bekämpft, die wesentlich weniger bis keine Schäden an Ökosystemen bzw. Nicht-Zielorganismen hervorrufen.

Sonstiges

Im September 2014 erklärte sich die Gemeinde Mals im italienischen Vinschgau (Südtirol) per Volksabstimmung zur „ersten pestizid-freien Gemeinde Europas“.[26] Darauf aufbauend veröffentlichte der österreichische Autor und Dokumentarfilmer Alexander Schiebel im Herbst 2017 das Buch Das Wunder von Mals – Wie ein Dorf der Agrarindustrie die Stirn bietet sowie Ende Mai 2018 den gleichnamigen Dokumentarfilm.[27][28] Nachdem 130 Landwirte Klage gegen das Malser Verbot eingereicht hatten, setzte die Gemeinde das Verbot aus. Im Herbst 2019 hob das Verwaltungsgericht Bozen das Verbot auf, weil die Gemeinde für diese Frage nicht zuständig sei.[29]

Im Laufe des Jahres 2021 werden in der Schweiz die beiden Volksinitiativen «Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung – Keine Subventionen für den Pestizid- und den prophylaktischen Antibiotika-Einsatz» (Trinkwasser-Initiative) und «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» (Pestizid-Initiative) zur Abstimmung kommen. In Frankreich dürfen seit dem 1. Januar 2019 keine Pflanzenschutzmittel mehr an Private verkauft werden.[30]

Mit dem European Green Deal wurde das Ziel gesetzt, den Einsatz von chemischen und gefährlichen Pestiziden bis 2030 um 50 % zu reduzieren.[31]

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Commons: Pestizide – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Pestizid – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  • Pestizide – Informationen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit

Nachweise

  1. B. N. Ames, M. Porifet and L. S. Gold: Dietary pesticides (99.99% all natural). In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. Band 87, Nr. 19, 1990, S. 7777–7781, PMID 2217210.
  2. a b c d Matthias Schaefer: Wörterbuch der Ökologie. 2012, doi:10.1007/978-3-8274-2562-1 (springer.com [abgerufen am 5. Oktober 2018]).
  3. US-EPA: What is a Pesticide?, abgerufen am 3. März 2010.
  4. Richtlinie 2009/128/EG … über einen Aktionsrahmen der Gemeinschaft für die nachhaltige Verwendung von Pestiziden (PDF).
  5. Plenardebatten – Mittwoch, 26. März 2003 – Nachhaltige Nutzung von Pestiziden. Abgerufen am 23. Mai 2017.
  6. Maurin Jost: Export gesundheitsschädlicher Pestizide: Viel Gift fürs Ausland. In: taz.de. 29. September 2019, abgerufen am 1. Oktober 2019.
  7. Laurent Gaberell, Géraldine Viret, Martin Grandjean: Verbotene Pestizide: Die giftige Doppelmoral der Europäischen Union. In: publiceye.ch. 10. September 2020, abgerufen am 10. September 2020.
  8. Elke Brandstätter, Andreas Maus: Pestizide: Hochgiftige Exporte. In: tagesschau.de. 10. September 2020, abgerufen am 10. September 2020.
  9. Stefan Häne: Zu giftig für die Schweiz – aber exportierbar allemal. In: derbund.ch. 15. März 2019, abgerufen am 16. März 2019.
  10. Strengere Bestimmungen für die Ausfuhr von Pflanzenschutzmitteln. Bundesrat, 14. Oktober 2020, abgerufen am 16. Oktober 2020.
  11. Laurent Gaberell, Géraldine Viret, Martin Grandjean: Schweizer Doppelstandards bei verbotenen Pestiziden. In: publiceye.ch. 10. September 2020, abgerufen am 26. September 2020.
  12. Andreas Sonnenberg und Manfred Sietz: Pestizide in der Umwelt
  13. Jean-Pierre Lumaret, Faiek Errouissi, Kevin Floate, Jorg Rombke, Keith Wardhaugh: A Review on the Toxicity and Non-Target Effects of Macrocyclic Lactones in Terrestrial and Aquatic Environments. In: Current Pharmaceutical Biotechnology. Band 13, Nr. 6, 1. April 2012, ISSN 1389-2010, S. 1004–1060, doi:10.2174/138920112800399257, PMID 22039795, PMC 3409360 (freier Volltext) – (eurekaselect.com [abgerufen am 5. Oktober 2018]).
  14. Orrey P. Young: Predation on Dung Beetles (Coleoptera: Scarabaeidae): A Literature Review. In: Transactions of the American Entomological Society. Band 141, Nr. 1, Januar 2015, ISSN 0002-8320, S. 111–155, doi:10.3157/061.141.0110 (bioone.org [abgerufen am 5. Oktober 2018]).
  15. Pflanzenschutzmittel schädigen auch Ökosysteme in Seeböden. In: unibe.ch. 20. Oktober 2020, abgerufen am 21. Oktober 2020.
  16. Doris Ammon: planet e - Artensterben droht: Eine Welt ohne Insekten. In: zdf.de. 5. Mai 2019, abgerufen am 5. Mai 2019.
  17. Matthias Liess, Sebastian Henz, Saskia Knillmann: Predicting low-concentration effects of pesticides. In: Scientific Reports. 9, 2019, doi:10.1038/s41598-019-51645-4.
  18. Gefahren durch Pestizide unterschätzt. In: biooekonomie.de. 12. November 2019, abgerufen am 20. November 2019.
  19. Tina Berg: Pestizide: Gefahr in der Luft. In: beobachter.ch. 27. März 2019, abgerufen am 13. April 2019.
  20. Jorge Casado, Kevin Brigden, David Santillo, Paul Johnston: Screening of pesticides and veterinary drugs in small streams in the European Union by liquid chromatography high resolution mass spectrometry. In: Science of The Total Environment. 670, 2019, S. 1204, doi:10.1016/j.scitotenv.2019.03.207.
  21. Andri Bryner: Zu viele Pflanzenschutzmittel in kleinen Bächen. In: eawag.ch. 2. April 2019, abgerufen am 6. Mai 2019.
  22. Glyphosat im Vogelschutzgebiet. In: mdr.de. 14. Juni 2019, abgerufen am 16. Juni 2019.
  23. Pestizidrückstände in Lebensmitteln: Wie sieht das Bild in der EU aus? Pressemitteilung der EFSA vom 26. Juni 2019. Abgerufen am 24. November 2019.
  24. The 2017 European Union report on pesticide residues in food (PDF; 22,7 MB) Jahresbericht der EFSA vom 26. Mai 2019. Abgerufen am 25. November 2019.
  25. International Monsanto Tribunal, abgerufen am 24. Oktober 2018
  26. Malser Pestizidverbot geht durch. In: Salto.bz. 16. Juli 2015 (salto.bz [abgerufen am 10. August 2018]).
  27. BR alpha-Forum: Alexander Schiebel im Gespräch mit Prisca Straub, 29. August 2017, abgerufen am 7. Dezember 2017.
  28. Das Wunder von Mals. Abgerufen am 10. August 2018.
  29. Michael Braun: Ende des Malser Wunders. In: taz. 11. Oktober 2019, abgerufen am 1. Februar 2020.
  30. Pestizide in Laienhänden - Umwelt-Risiko: Tonnenweise Pestizide in Privatgärten. In: srf.ch. 7. Mai 2019, abgerufen am 9. Mai 2019.
  31. Agriculture, forestry and fishery statistics — 2020 edition. (PDF; 16,1 MB) Eurostat, 17. Dezember 2020, abgerufen am 19. Dezember 2020 (englisch).
  32. Johann G. Zaller: Unser täglich Gift. Pestizide - die unterschätzte Gefahr. - Bücher - Hanser Literaturverlage. Abgerufen am 10. Januar 2021.