Kanadische Literatur

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Der Begriff Kanadische Literatur bezeichnet Prosa, Dichtung, Drama in englischer und französischer Sprache aus Kanada. Nicht zur kanadischen Literatur werden die traditionellen Literaturen der indianischen Ureinwohner, der Esquimaux (Inuit, Yupik) und der anderen First Nations gezählt.

Merkmale

Die kanadische Literatur wird durch das Neben- und Miteinander anglokanadischer und frankokanadischer Literatur(en) sowie von Einflüssen zahlreicher Minderheiten geprägt. Häufige Sujets, Motive und stilistische Elemente sind:

Die offizielle Mehrsprachigkeit Kanadas wirkt sich auch auf die Gestaltung der Figuren und ihrer Interaktionen aus, insbesondere in wörtlicher Rede (was wiederum zu Schwierigkeiten bei der Übersetzung kanadischer Literatur in andere Sprachen führen kann).
Der Autor Hugh MacLennan beschreibt dieses Phänomen im Vorwort zu seinem Roman The Two Solitudes (1945): Einige der Charaktere seines Buches sprächen vermutlich nur Englisch und andere nur Französisch, während viele bilingual seien. Er weist darauf hin, daß es in Kanada kein einziges Wort gebe, dass zufriedenstellend beide im Land heimischen Gruppen gemeinsam bezeichne. Während die Frankophonen mit dem Wort Canadien (franz.: Kanadier) fast immer nur sich selbst meinten, würden sie ihre anglophonen Mitbürger les Anglais (franz.: die Engländer) nennen. Die Anglophonen wiederum würden sich selbst Canadians (engl.: Kanadier), ihren frankophonen Mitbürger French-Canadians (engl.: Frankokanadier) nennen.[1]

Kanada wird im Jahr 2020 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein, und zwar mit allen Sprachvarianten des Landes (Englisch, Französisch, Sprachen der Indigenen und der Inuit). [2]

Anglokanadische Literatur

Die anglokanadischen Schriftsteller wurden durch die literarischen Entwicklungen im kolonialen Mutterland beeinflusst, gefolgt von Einflüssen aus den Vereinigten Staaten sowie aus den Literaturen der zahlreichen Herkunftsländer − durch Immigranten, die nunmehr Englisch schreiben.

Als einer der ersten kanadischen Schriftsteller gilt Thomas Chandler Haliburton (1796–1865), der allerdings zwei Jahre vor der Gründung des Landes verstarb. Zu seinen wichtigsten Werken zählt The Clockmaker (1838).
Die anglophonen Autoren des 19. und frühen 20.  Jahrhundert schrieben über das Pionierlebens an der nordamerikanischen Frontier (Susanna Moodies Life in the clearing versus the bush, Catharine Parr Traills The Backwoods of Canada, Sheila Watsons Deep Hollow Creek), über die Größe, das Potential und die natürliche Schönheit des Landes (Bliss Carman, Francis Reginald Scott), über die Entwicklung einzelner Einwandergruppen im Dominion Kanada (Laura Goodman Salversons The Viking Heart) sowie über die schlichten Sitten, den Glauben und das Streben einfacher Menschen (Stephen Leacock, Lucy Maud Montgomery). Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs rückte das Verhältnis zur ›Alten Welt‹ und der Einfluss des Krieges auf die Einwanderer in den Fokus (Laura Goodman Salversons The Dark Weaver).

Nach dem Zweiten Weltkrieg brachten u. a. Mordecai Richler (The Apprenticeship Of Duddy Kravitz), Timothy Findley, Mavis Gallant, Margaret Laurence (The Stone Angel), Irving Layton, Norman Levine und Sheila Watson (The Double Hook) modernistische Impulse in die kanadische Literatur ein. Das gespaltene Verhältnis zwischen anglo- und frankophonen Kanadiern wird zum Thema (Hugh MacLennans Two Solitudes).
Leonard Cohen setzte 1966 mit Beautiful Losers erste postmoderne Impulse.[3]

Mit der Southern Ontario Gothic entwickelte sich zudem ein eigenständiges Subgenre der Gothic Novel, bei dem das Leben im südlichen Ontario und die protestantische Mentalität seiner Bewohner im Zentrum der Kritik steht.[4] Zu deren wichtigsten Vertretern zählen Margaret Atwood, Robertson Davies, Marian Engel, Barbara Gowdy, Jane Urquhart und die Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro.

In den 1990er und frühen 2000er Jahren reüssierten zahlreiche neue Autoren, u. a. Caroline Adderson (Pleased to Meet You, The Sky is Falling), Joseph Boyden (Three Day Road, The Orenda), Lynn Coady (Hellgoing, The Antagonist), Douglas Coupland (Generation X, Marshall McLuhan: You Know Nothing of My Work!), Bill Gaston (Gargoyles), Lawrence Hill (The Book of Negroes), Yann Martel (The Facts behind the Helsinki Roccamatios, Life of Pi), Anne Michaels (Fugitive Pieces), Nino Ricci (Lives of the Saints) und David Adams Richards (Mercy Among the Children, Lines on the Water: A Fisherman's Life on the Miramichi).

Frankokanadische Literatur

Der Osten Kanadas wurde zuerst von französischen Siedlern als Neufrankreich kolonisiert. Québec verblieb nach der Ausdehnung der britischen Herrschaft die einzige Region des nordamerikanischen Festlandes mit einer französischsprachigen Mehrheit und prägt als solche die kanadische Literatur. Viele frankokanadische Autoren wurden stilistisch durch französische Literaten beeinflusst, u. a. durch Honoré de Balzac.

L'influence d'un livre (1837) von Philippe Aubert de Gaspé (1814–1841) gilt als erster frankokanadischer Roman. Ein wichtiges Genre im 19. Jahrhundert und weiter bis in die 1940er Jahre war der roman du terroir. Dieser feiert das ländliche Leben als Gegenpol zur Industrialisierung. Als erster roman du terroir gilt Patrice Lacombes The Paternal Farm (1846). Das Genre wurde in den 1860er Jahren durch theoretische Setzungen des Abbé Henri-Raymond Casgrain bestärkt. Casgrain, der erste Literaturtheoretiker aus Québec, sah in katholischer Moral und Patriotismus die höchsten Ziele der Literatur. Sein Essay Le mouvement littéraire en Canada (1866) galt über Jahrzehnte als Richtlinie für viele frankokanadische Autoren.[5]

Ein weiteres, fast hundert Jahre lang populäres Genre war der historische Roman. Auch der in den 1850er Jahren als „poète national“[6] gefeierte Dichter Octave Crémazie arbeitete mit historischen Stoffen.

In den 1930er Jahren kam es zu einer stärkeren Hinwendung zu psychologisch und sozialkritisch geprägten Romanformen. Gabrielle Roy und Anne Hébert brachten der frankokanadischen Literatur erste internationale Anerkennung. Nach der Révolution tranquille kam es mit Autoren wie Antonine Maillet und Roch Carrier zu einem weiteren Aufschwung, wobei auch die kulturellen und sozialen Spannungen zwischen den Franko- und Anglokanadiern stärker in den Fokus rückte. Einen experimentalen Zweig der Literatur in Québéc entwickelten u. a. die feministische Dichterin Nicole Brossard sowie die Romanciers Hubert Aquin und Gérard Bessette (Nouveau roman).

In den späten 1970er verhalfen die (anglophone) Literaturwissenschaftlerin Susan Joan Wood und die Science-Fiction-Autorin Judith Merril den Studies of Feminist Science Fiction zur Anerkennung − was sich u. a. in der Gründung des frankokanadischen Science-Fiction-Magazins Solaris niederschlug.

Weitere ausgezeichnete frankokanadische Autorinnen sind Marie-Claire Blais und Antonine Maillet, weitere wichtige frankokanadische Autoren sind der Dichter Hector de Saint-Denys Garneau, der Romancier Jacques Poulin sowie der Dramatiker Michel Tremblay, der das Joual (die Umgangssprache der Arbeiterklasse Québecs) auf die Bühne brachte.

Literatur von Minderheiten

Eine kanadische Besonderheit sind die anglophone Binnenminderheit im frankophonen Québec und die frankophone Minderheit im restlichen Kanada. So lebten etwa die anglophonen Dichter Louis Dudek und Irving Layton und die Romanschriftsteller Hugh MacLennan und Mordecai Richler in Montreal, Québec. Aus dem anglophonen, jüdischen Teils Montreals stammt auch Leonard Cohen.

Eine bekannte englischsprachige First Nations Dichterin ist die Mi’kmaq Rita Joe.

1967 erhöhte die kanadische Regierung die finanzielle Unterstützung für Verleger, was zu einem starken Anstieg kleiner Verlage im ganzen Land führte. Nach Premierminister Pierre Trudeaus Announcement of Implementation of Policy of Multiculturalism within Bilingual Framework (1971) wurde Kanadas literarische Szene noch diverser.
Zu den erfolgreichen Autoren der eingewanderten Minderheiten zählen Marie-Célie Agnant (aus Haiti), Ryad Assani-Razaki (aus Benin), Clark Blaise (aus den Vereinigten Staaten), Adrienne Clarkson (aus Hongkong), Rawi Hage sowie Wajdi Mouawad (beide aus dem Libanon), Dany Laferrière (aus Haiti), Erin Mouré (aus Galizien), Joy Nozomi Nakayama (japanische Community), Samuel Dickson Selvon (aus Trinidad und Tobago), Russell Claude Smith (aus Südafrika), Moyez G. Vassanji (aus Kenia) und Rudy Wiebe (deutschstämmig mit Plautdietsch als Muttersprache).

Erfolgreiche Autoren im 20./21. Jahrhundert (Auswahl)

Margaret Atwood

Zu Margaret Atwoods wichtigsten Arbeiten zählt ihre Analyse des kanadischen Überlebenswillens, Survival (1972), der Gedichtband The Journals of Susanna Moodie (1970), der dasselbe Thema behandelt und ihr Roman Surfacing (1972), auf deutsch Der lange Traum Surfacing wurde als „Schlüsselwerk der kanadischen Literatur“ bezeichnet und mit ihm gelang Atwood der internationale Durchbruch.

Dany Laferrière

Dany Laferrière wanderte 1976 von Haiti nach Kanada aus und wurde mit seinem Debütroman Comment faire l'amour avec un nègre sans se fatiguer berühmt. 2009 wurde sein Roman L'Énigme du retourder mit dem französischen Literaturpreis Prix Médicis ausgezeichnet. Er wurde 2013 als erster Kanadier (und erster Haitianer) zum Mitglied der Académie française gewählt wurde.

Alice Munro

Alice Munro hat die Struktur von Kurzgeschichten revolutioniert. Neben zahlreichen kanadischen Preisen und dem Booker Prize (2009) wurde sie 2013 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt.

Michael Ondaatje

Michael Ondaatje erhielt 1970 den renommierten Governor General’s Award for Poetry. Die Jazz-Novelle Coming through Slaughter (1976), aber vor allem der Toronto-Roman In the Skin of a Lion (1987) waren frühe anerkannte Werke. Der englische Patient (1992) und seine Verfilmung machten aus ihm einen international bekannten Namen.

Gabrielle Roy

Gabrielle Roy zählt zu den wichtigsten kanadischen Autorinnen der Nachkriegsepoche. Ihr Roman Bonheur d'occasion (1947), der als eines der auslösenden Elemente der Stillen Revolution gewertet wird, war als The Tin Flute auch in den USA äußerst erfolgreich. Alexandre Chenevert (1954) gilt als eines der bedeutendsten Werke des psychologischen Realismus in der kanadischen Literatur. Ihr Werk wurde u. a. dreifach mit dem Governor General’s Award for Fiction ausgezeichnet (1947, 1957, 1978).

Carol Shields

Carol Shields ist in Illinois geboren, heiratete 1957 jedoch einen Kanadier und lebte und arbeitete bis zu ihrem Tod 2003 in Kanada. Sie hat sich, wie Margaret Atwood, intensiv mit Susanna Moodie befasst. Shields hat eine Reihe von preisgekrönten Romanen geschrieben. u. a. das Pulitzer-Preis-Buch The Stone Diaries (1993; deutsch: Das Tagebuch der Daisy Goodwill), Larry’s Party (1997) und Unless (2002; deutsch Die Geschichte der Reta Winters), der für den Scotiabank Giller Prize nominiert war.

Jane Urquhart

Jane Urquhart stammt aus Longlac (Greenstone) in Nord-Ontario. Sie besuchte eine Privatschule in Toronto und studierte Englisch und Kunstgeschichte in Guelph. Ihr erster Roman, The Whirlpool (1986) erhielt 1992 als erstes kanadisches Buch den französischen Prix du Meilleur Livre Etranger (Preis für den besten ausländischen Roman). The Underpainter erhielt 1997 den Governor General’s Award for Fiction.

Literaturpreise (Auswahl)

Siehe auch

Sekundärliteratur

Weblinks

Anmerkungen

  1. U. a. in: Catharine Parr Traills The Backwoods of Canada (1836), Margaret Atwoods Survival: A Thematic Guide to Canadian Literature (1972), Yann Martels Life of Pi (2001).
  2. U. a. in: Susanna Moodies Life in the Clearings (1853), Sheila Watsons Deep Hollow Creek (1951/1992).
  3. U. a. in: Stephen Leacocks Sunshine Sketches of a Little Town (1912), Alistair MacLeods No Great Mischief (1999).
  4. U. a. bei: Mordecai Richler, Leonard Cohen, Margaret Laurence, Rohinton Mistry, Michael Ondaatje, Wayson Choy, Rita Joe.
  5. U. a. in: Hugh MacLennans Two Solitudes (1945), Leonard Cohens Beautiful Losers (1966), Mordecai Richlers Oh Canada! Oh Quebec! Requiem for a Divided Country (1992).
  6. U. a. in: Thomas Chandler Haliburtons The Clockmaker (1838).
  7. U. a. in: Robertson Daviess Fifth Business (1970), Norman Levines Canada Made Me (1958).
  8. U. a. in: Anne Heberts Kamouraska (1970), Timothy Findleys Not Wanted on the Voyage (1984).
  9. U. a. in: Laura Goodman Salversons When Sparrow Falls (1925), Leonard Cohens Beautiful Losers (1966), Nicole Brossards L'Amer ou, Le Chapitre effrite (1977), Jane Rules "Slogans" (in: Inland Passage and Other Stories, 1985), Farzana Doctors Six Metres of Pavement (2011).
  10. U. a. in: Thomas McCullochs Letters of Mephibosheth Stepsure (1821−1823), Stephen Leacocks Literary Lapse (1910), Michel Tremblays Les Belles sœurs (1968), Yves Beauchemins Le Matou (1981).

Einzelnachweise

  1. “... it is a novel of Canada. This means that its scene is laid in a nation with two official languages, English and French. It means that some of the characters in the book are presumed to speak only English, others only French while many are bilingual. No single word exists, within Canada itself, to designate with satisfaction to both races a native of the country. When those of the French language use the word Canadien, they nearly always refer to themselves. They know their English-speaking compatriots as les Anglais. English-speaking citizens act on the same principle. They call themselves Canadians; those of the French language French-Canadians.”, »Foreword«, in: Hugh MacLennan, Two Solitudes, Toronto: Collins, 1945.
  2. Pressemitteilung der Buchmesse 2016
  3. Stan Dragland, "Afterword", in: Leonard Cohen, Beautiful Losers, Toronto: McClelland & Stewart, 1991 ISBN 0-7710-9875-8.
  4. Eugene Benson und William Toye (Hrsg.), The Oxford Companion to Canadian Literature, Oxford University Press Canada: Don Mills 1997, S. 1085.
  5. "Casgrain, Henri-Raymond" auf: Dictionnaire biographique du Canada, abgerufen am 27. Juli 2015 (französisch, englisch).
  6. Odette Condemine, "Crémazie, Octave" auf: encyclopediecanadienne.ca, abgerufen am 15. September 2015 (französisch, englisch).