Wolfgang Thierse

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Wolfgang Thierse auf dem Jugendpolitikfestival Berlin 08

Wolfgang Thierse (* 22. Oktober 1943 in Breslau) ist ein deutscher Politiker (SPD), von 1998 bis 2005 war er Präsident des Deutschen Bundestages und von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.

Leben

Wolfgang Thierse 2005 in der Memminger Martinskirche bei der Laudatio auf Gyula Horn anlässlich der ersten Verleihung des Memminger Freiheitspreises 1525

Ausbildung und Beruf

Wolfgang Thierse wurde am 22. Oktober 1943 als Sohn eines Rechtsanwaltes und Mitglieds der katholischen Zentrumspartei (später CDU-Kreistagsabgeordneter) in Breslau geboren. Nach der Vertreibung aus Breslau siedelte sich die Familie im thüringischen Eisfeld an, dort besuchte Thierse die Oberschule. Er war auch Mitglied der FDJ. Nach dem Abitur an der Erweiterten Oberschule im südthüringischen Hildburghausen erlernte er den Beruf des Schriftsetzers beim Thüringer Tageblatt in Weimar.[1]

Thierse begann 1964 ein Studium der Germanistik und der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, das er 1969 mit dem Diplom beendete. Anschließend war er an der Sektion Kulturwissenschaften/Ästhetik der Humboldt-Universität wissenschaftlicher Assistent von Wolfgang Heise. Das Ministerium für Kultur der DDR, wo er ab 1975 in der Abteilung Bildende Kunst tätig war, entließ ihn, nachdem er sich geweigert hatte, eine Erklärung zu unterzeichnen, mit der er die Ausbürgerung von Wolf Biermann befürworten sollte.

1977 ging er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Dort arbeitete er u. a. als Mitverfasser des Historischen Wörterbuches ästhetischer Grundbegriffe.[2] Zwischen 1970 und 1987 wirkte Thierse an den Drehbüchern für sieben DEFA-Dokumentarfilme mit und verfasste die Kommentartexte.[3] Im Jahr 2003 erschien ein von ihm vorgetragenes Hörbuch mit einer der bekanntesten Erzählungen von Charles Dickens, Eine Weihnachtsgeschichte.

Parteilaufbahn

Thierse war bis zur Wende parteilos und trat im Oktober 1989 dem Neuen Forum bei. Anfang Januar 1990 wurde er dann Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP). Nach dem Rücktritt von Ibrahim Böhme wurde Thierse am 9. Juni 1990 auf einem Sonderparteitag zum Vorsitzenden der SPD der DDR gewählt.

Auf dem Vereinigungsparteitag der SPD wurde er am 27. September 1990 zu einem der stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt. Aus diesem Amt schied er im November 2005 aus, gehörte aber weiterhin dem Parteivorstand an. Auf dem Bundesparteitag der SPD in Dresden im November 2009 kandidierte er auch nicht mehr für den Parteivorstand.[4][5]

Thierse ist Sprecher des Arbeitskreises „Christen in der SPD“[6] und beratendes Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

Abgeordnetentätigkeit

Wolfgang Thierse, 1990

Von März bis Oktober 1990 gehörte Thierse der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR an. Hier war er zunächst stellvertretender Vorsitzender und ab dem 21. August 1990 Vorsitzender der SPD-Volkskammerfraktion.

Thierse zählte zu den 144 von der Volkskammer gewählten Abgeordneten, die am 3. Oktober 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages wurden. Am 4. Oktober 1990 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion gewählt. Von Dezember 1990 bis Dezember 1991 war er außerdem Vorsitzender des Fraktionsarbeitskreises Neue Länder/Deutschlandpolitik.

Am 26. Oktober 1998 wurde Thierse mit 512:109:45 Stimmen zum Präsidenten des Deutschen Bundestages gewählt und am 17. Oktober 2002 mit 357:219:20 Stimmen im Amt bestätigt. Thierse erhielt nur 59,9 Prozent der Stimmen, weil ihm aus dem Lager der Unionsparteien vorgeworfen wurde, sein Amt in der letzten Legislaturperiode zu parteiisch geführt zu haben.[7]

In seine erste Amtszeit fiel auch die CDU-Spendenaffäre, die ihn als Parlamentspräsidenten insoweit betraf, als er qua Amt für die Überwachung der Einhaltung des Parteiengesetzes und die Ahndung eventueller Verstöße verantwortlich war. Er verhängte eine Strafe in Höhe von 7,8 Millionen D-Mark gegen die CDU und ließ die staatlichen Zuschüsse an die CDU um insgesamt 41 Millionen D-Mark kürzen. Über diese Geschehnisse sagte er selbst, es wäre ihm lieber gewesen, er hätte sich nicht mit ihnen beschäftigen müssen. Von Seiten der Union wurde Thierse wegen der verhängten Strafzahlung mehrfach angegriffen und seine Überparteilichkeit in Frage gestellt – dies unter anderem auch deshalb, weil Thierse, als Bundestagspräsident zu strenger Überparteilichkeit verpflichtet, weiterhin als Stellvertretender SPD-Parteivorsitzender amtierte. Das Bundesverfassungsgericht allerdings bestätigte die Rechtmäßigkeit dieses im Parteiengesetz ausdrücklich vorgesehenen Vorgehens.

Da die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als stärkste Fraktion aus der Bundestagswahl 2005 hervorging, war seine Amtszeit am 18. Oktober 2005 beendet. Er wurde mit 417:136:52 Stimmen zum Vizepräsidenten des Bundestags gewählt. Am 27. Oktober 2009 wurde er dies erneut mit 371:170:65 Stimmen, dem schlechtesten Ergebnis aller fünf gewählten Stellvertreter.

Im Frühjahr 2005 besuchte eine von dem damaligen Bundestagspräsidenten Thierse angeführte Delegation das Mausoleum des verstorbenen chinesischen Diktators Mao Zedong.[8]

Wolfgang Thierse zog 1994, 1998 und 2009 über die Landesliste Berlin, in den anderen Fällen als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Berlin-Mitte – Prenzlauer Berg – Weißensee I (1990) bzw. Berlin-Pankow (seit 2002) in den Bundestag ein. Bei der Bundestagswahl 2005 erreichte er 41,1 % der Erststimmen. 2009 verlor er sein Direktmandat an Stefan Liebich von der Partei Die Linke. Am 28. August 2012 kündigte Thierse an, bei der Bundestagswahl 2013 nicht mehr zu kandidieren.[9]

Sonstiges Engagement

Thierse ist langjähriges persönlich hinzugewähltes Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Ehrenpräsident der Europäischen Bewegung Deutschland, deren Präsident er von 1998 bis 2000 war.[10], Schirmherr der Georg-Elser-Initiative Berlin und Mitglied des Kuratoriums von Aktion Deutschland Hilft e. V., dem Bündnis der Hilfsorganisationen und Mitglied des Beirats des Cusanuswerks. Seit Oktober 2000 ist Thierse Kuratoriumsvorsitzender der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, die 1994 durch den Deutschen Bundestag errichtet wurde.[11] Ferner ist er Vorsitzender des Vorstands des Kulturforums der Sozialdemokratie mit den Themenschwerpunkten Künstlerische und kulturpolitische Grundsatzfragen, Kulturpolitische Programmatik, Erinnerungskultur, Berlin-Kultur sowie Werte und Religion.[12] Er ist Mitglied im Ehrenrat von AMCHA Deutschland, der zentralen Organisation für die psychosoziale Hilfe von Überlebenden des Holocaust und ihren Nachkommen in Israel. Bis 2013 übernahm Thierse die Schirmherrschaft des Behandlungszentrums für Folteropfer.[13]

Privates

Thierse ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist katholisch. Er wohnt im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg.

Kontroversen

Aktionen gegen Rechtsextremismus

Wolfgang Thierse engagiert sich intensiv gegen Rechtsextremismus, u.a. als Schirmherr der Amadeu Antonio Stiftung. So nimmt er regelmäßig an einschlägigen Demonstrationen teil. Er geriet in die Kritik, da er auch bei Blockadeaktionen gegen nicht verbotene und ordentlich angemeldete rechtsextreme Demonstrationen mitmacht, zum Beispiel am 1. Mai 2010 in Berlin.[14] Ein gegen ihn in diesem Zusammenhang eröffnetes Strafverfahren, u. a. wegen Nötigung, wurde aber eingestellt.[15]

Am 19. Februar 2011, nach einer Aktion gegen die an diesem Tag geplanten rechtsextremen Demonstrationen in Dresden, erklärte Wolfgang Thierse in einem Interview mit dem MDR: „Die Polizei ist eben vollauf damit beschäftigt, die Neonazis zu schützen. […] Das ist sächsische Demokratie.“[16] Weil er damit nach Ansicht der Gewerkschaft der Polizei und von Politikern der sächsischen Regierungskoalition Prinzipien der Gewaltenteilung und Grundrechte, wie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in Frage stelle sowie im Umgang mit politischen Gegnern Faustrecht billige, wurden diese Äußerungen kritisiert. Holger Zastrow, Fraktionsvorsitzender der sächsischen FDP, nannte ihn als „Bundestagsvizepräsident untragbar“.[17] Andreas Arnold, ein ranghoher Polizeibeamter, zeigte Thierse wegen Beleidigung an.[16] Anfang März 2011 wurde das daraufhin gegen ihn eingeleitete Ermittlungsverfahren eingestellt.[18]

Schwaben-Streit

In zwei Interviews mit der Berliner Morgenpost[19] und dem Spiegel[20] zum Jahreswechsel 2012/2013 monierte Thierse, dass die Kultur in Berlin-Prenzlauer Berg unter dem Zuzug von Schwaben und anderen wohlhabenderen Deutschen leide, insofern sich diese Zugezogenen zu wenig anpassten. Nach 3000 zum Teil von Hass erfüllten Protestmails hieß Thierse die Schwaben in Berlin willkommen.[21] [22]

Auszeichnungen (Auswahl)

Wolfgang Thierse ist seit 2004 Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät der Universität Münster

Am 26. Februar 2004 erhielt Thierse die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Gewürdigt werden mit dieser Auszeichnung seine besonderen Verdienste um die Verständigung zwischen Ost- und Westdeutschland, die Stärkung des demokratischen Bewusstseins in den neuen Bundesländern und die Zurückweisung radikaler Strömungen in der Gesellschaft.

2001 erhielt er von der Theodor-Heuss-Stiftung den Theodor-Heuss-Preis sowie den Ignatz-Bubis-Preis für Verständigung der Stadt Frankfurt am Main.

Thierse wurde vom Deutschen Kulturrat, dem Spitzenverband der Bundeskulturverbände, der Kulturgroschen 2016 zuerkannt, der ihm am 15. März 2016 in Berlin übergeben wurde. Der Präsident des Deutschen Kulturrates Christian Höppner in seiner Begründung: Wolfgang Thierse hat sich als Kulturpolitiker intensiv mit der deutschen Geschichte und der Rolle von Kunst sowie von Künstlern in der Gesellschaft auseinandersetzt. Er hat sich als Mitglied des Deutschen Bundestags stets für die Kultur stark gemacht und war dabei eine moralische Instanz - insbesondere in der Form des adäquaten Erinnerns an die deutsche Geschichte. Er ist einer der profiliertesten Verteidiger der kulturellen Institutionen und der Kulturlandschaft vor Abbau in Deutschland. Für diese außergewöhnliche kulturpolitische Lebensleistung erhielt er den Kulturgroschen, die höchste Auszeichnung des Deutschen Kulturrates.[23]

Veröffentlichungen (Auswahl)

  • (Hg.): Arbeit ist keine Ware. Herder, Freiburg im Breisgau [u.a.] 2009, ISBN 978-3-451-30290-9.
  • (Hg.): Grundwerte für eine gerechte Weltordnung. Eine Denkschrift der Grundwertekommission der SPD zur internationalen Politik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-06720-6.
  • Zukunft Ost. Perspektiven für Ostdeutschland in der Mitte Europas. Rowohlt, Berlin 2001, ISBN 3-87134-442-7.
  • (Hg.): Zehn Jahre deutsche Einheit. Eine Bilanz. Leske und Budrich, Opladen 2000, ISBN 3-8100-2924-6.
  • (Hg.): Religion ist keine Privatsache. Patmos-Verlag, Düsseldorf 2000, ISBN 3-491-72430-9.
  • mit Avraham Burg: Das Parlament in der deutschen und in der israelischen Demokratie. Friedrich-Ebert-Stiftung, Herzliya 2000.
  • (Hg.): Das Deutsche Parlament. Kohlhammer, Stuttgart [u.a.] 1999, ISBN 3-17-016148-2.
  • (Hg.): Ist die Politik noch zu retten? Standpunkte am Ende des 20. Jahrhunderts. Aufbau-Verlag, Berlin 1996, ISBN 3-351-02454-1.
  • Mit eigener Stimme sprechen. Piper, München [u.a.] 1992, ISBN 3-492-03604-X.
  • „Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat“. Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs. In: Weimarer Beiträge 36 (1990), S. 240–264.
  • mit Dieter Kliche: DDR-Literaturwissenschaft in den 70er Jahren. Bemerkungen zur Entwicklung ihrer Positionen und Methoden. In Weimarer Beiträge 31 (1985), S. 267–308.
  • Ernst Barlachs Plastik „Der Schwebende“ zwischen Ost und West. In: Barlachs Engel. Stimmen zum Kölner Schwebenden. Herausgegeben von Antje Löhr-Sieberg und Annette Scholl unter Mitarbeit von Anselm Weyer. Greven Verlag, Köln 2011, S. 54-57. ISBN 978-3-7743-0481-9.

Literatur

Weblinks

Commons: Wolfgang Thierse – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Thierse berichtet von seiner Ausbildung zum Schriftsetzer und beschreibt die Zukunft der Printmedien
  2. Kopf gegen Mauern, Porträt zum 65. Geburtstag, General-Anzeiger Bonn, 23. Oktober 2008
  3. „FilmDokument – Text: Wolfgang Thierse“, Programmtext – Kino arsenal, Dezember 2007.
  4. Die Mehrheit wird in die Röhre gucken. (Memento vom 14. April 2010 im Internet Archive) Netzeitung, 14. November 2009. Abgerufen am 10. Januar 2011.
  5. Wahlergebnisse zum Parteivorstand. Pressemitteilung der SPD vom 14. November 2009. Abgerufen am 10. Januar 2011.
  6. Religionsdebatte in der SPD: Trennung von Staat und Kirche? Um Gottes Willen! In: spiegel.de, 14. August 2011, abgerufen am 21. Juni 2013.
  7. Hans-Joachim Schabedoth: Unsere Jahre mit Gerhard Schröder. Rot-Grüne-Regierungsarbeit zwischen Aufbruch und Abbruch. Ein Rückblick, Marburg 2006, S. 133
  8. Klaus Wiegrefe: Der große Zerstörer, in: Der Spiegel, Nr. 40/2005, 1. Oktober 2005, S. 131.
  9. Thierse kandidiert nicht mehr für den Bundestag
  10. Mittag 2009: 29.
  11. Gremien auf den Seiten der Willy-Brandt-Stiftung, abgerufen am 30. Mai 2014
  12. Kulturforum der Sozialdemokratie – Vorstand, abgerufen am 30. Juni 2013
  13. Partner des Behandlungszentrums für Folteropfer http://www.bzfo.de/organisation/partner.html
  14. Thierse nach Sitzblockade in der Kritik. In: Die Zeit. 3. Mai 2010, abgerufen am 30. März 2011.
  15. Sitzblockade am 1 Mai Thierse kommt um Strafverfahren herum. In: Stern. 20. Mai 2010, abgerufen am 30. März 2011.
  16. a b Polizeichef zeigt Bundestagsvize Thierse an. In: Sächsische Zeitung. 22. Februar 2011, abgerufen am 30. März 2011.
  17. Thierse als Bundestagsvizepräsident untragbar. FDP Sachsen, 25. Februar 2011, abgerufen am 1. Januar 2013.
  18. Ermittlungen gegen Thierse eingestellt. In: Berliner Morgenpost. 2. März 2011, abgerufen am 30. März 2011.
  19. Schwaben sollen „Schrippe“ sagen – findet Thierse. In: Berliner Morgenpost. 31. Dezember 2012, abgerufen am 3. Januar 2013.
  20. „So proper wie in Schwaben wird es in Berlin nie!“ In: Der Spiegel. 2. Januar 2013, abgerufen am 3. Januar 2013.
  21. Thierse macht Schwaben ein Friedensangebot, Augsburger Allgemeine, 14. Januar
  22. „Spießer, Rassist, Nazi“: 3.000 Hass-Mails an Wolfgang Thierse, Augsburger Allgemeine, 13. Januar
  23. Deutscher Kulturrat Pressemitteilungen vom 8. September 2015: Kulturgroschen 2016: Deutscher Kulturrat ehrt Wolfgang Thierse, abgerufen am 9. September 2015