Volksabstimmung zu Stuttgart 21

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 16. August 2016 um 10:49 Uhr durch SDB (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Amtlicher Stimmzettel zur Volksabstimmung

Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 im Land Baden-Württemberg fand am 27. November 2011 statt. Gegenstand der Volksabstimmung war die Gesetzesvorlage der Landesregierung „S 21-Kündigungsgesetz“, die die Rücknahme der Landesbeteiligung an der Projektfinanzierung vorsah und die bereits vom Landtag von Baden-Württemberg abgelehnt worden war. Eine Mehrheit von 58,9 Prozent der gültigen Stimmen sprach sich gegen die Gesetzesvorlage und damit für den Beibehalt der Landesfinanzierung des Projektes aus.

Politischer Hintergrund

In ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten Grüne und SPD nach der Landtagswahl von März 2011, eine Volksabstimmung über das Projekt Stuttgart 21 zu veranstalten und die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm in jedem Fall zu realisieren.[1]

Ende Juli 2011 wurde dazu ein Entwurf, das „Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S 21-Kündigungsgesetz)“, vorgelegt, das die Landesregierung verpflichtet hätte, Kündigungsrechte bei den vertraglichen Vereinbarungen mit finanziellen Verpflichtungen des Landes Baden-Württemberg für das Bahnprojekt Stuttgart 21 auszuüben.[2][3] Da von den im Parlament vertretenen Parteien lediglich die Grünen gegen Stuttgart 21 waren, wurde das Gesetz am 28. September 2011 erwartungsgemäß im Landtag abgelehnt.[4] Dies eröffnete die Möglichkeit zur Volksabstimmung. Rechtliche Grundlage bildete das Gesetz über Volksabstimmung und Volksbegehren (Volksabstimmungsgesetz – VAbstG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Februar 1984.

Bei der Abstimmung konnten die Wähler entweder mit „Ja“ oder „Nein“ votieren. Das Kündigungsgesetz zu Stuttgart 21 wäre angenommen gewesen, wenn die Mehrheit der abstimmenden Bürger – mindestens jedoch ein Drittel aller Stimmberechtigten (das entsprach einem Quorum von rund 2,5 Millionen Stimmberechtigten) – mit „Ja“ gestimmt hätte.

Rechtliche Zulässigkeit

Ein von der vorherigen Landesregierung beauftragtes Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof und des Juristen Klaus-Peter Dolde kam im Oktober 2010 zum Schluss, ein Volksentscheid widerspreche Artikel 60, Absatz 6 der Landesverfassung: Über Abgabengesetze, Besoldungsgesetze und das Staatshaushaltsgesetz findet keine Volksabstimmung statt.[5] Nach Ansicht von Kirchhof und Dolde ist diese Bestimmung „weit auszulegen“ und betrifft alle Gesetze, die zu einer Neuordnung des Gesamthaushalts zwingen.[6] Vertreter der SPD brachten dagegen vor, dass der Haushalt nicht von der Volksabstimmung tangiert sei,[7] bzw. dass mit dieser Sichtweise „eine Abstimmung über jedes Gesetz, das Geld kostet, ausgeschlossen“ wäre.[8]

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die Volksabstimmung mit einem am 23. November 2011 veröffentlichten Beschluss aus zwei Gründen nicht zur Entscheidung angenommen: 1. Mit der Verfassungsbeschwerde könne nur die Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des Grundgesetzes, nicht aber eine Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung geltend gemacht werden (d.h. konkret: das Bundesverfassungsgericht hat nicht über die Auslegung von Art. 60 der Landesverfassung Baden-Württemberg zu entscheiden). 2. Soweit eine Verletzung des Grundgesetzes geltend gemacht werde, sei die Verfassungsbeschwerde schon deshalb unzulässig, „weil das Gesetz noch nicht beschlossen, geschweige denn verkündet ist“.[9]

Weiterhin wurde im Vorfeld argumentiert, dass eine Kündigung der Finanzierungsvereinbarung zu Stuttgart 21 nicht möglich sei, da sie keine Kündigungsklausel enthält. Dolde führte dazu aus, dass das Verwaltungsverfahrensgesetz eine Kündigung öffentlich-rechtlicher Verträge bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse zulässt, dass eine aktive Herbeiführung einer solchen Änderung der Verhältnisse aber gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoße. SPD-Gutachter hielten entgegen, dass ein Regierungswechsel oder ein Volksentscheid eine eben solche Änderung der Verhältnisse darstellen könne.[6]

Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung

Wahlberechtigt waren 7,6 Millionen[10] Personen von insgesamt rund 10,7 Millionen Einwohnern des Landes Baden-Württemberg. Abgestimmt wurde in 35 Land- und neun Stadtkreisen.

Die Wahlbeteiligung[11] lag bei 48,3 Prozent und damit um 12,1 Prozentpunkte niedriger als bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März 2011.[12][13] Am niedrigsten war die Beteiligung im badischen Oberrheingraben in Mannheim, Landkreis Rastatt, Pforzheim, Ortenaukreis und Landkreis Lörrach, am höchsten in Stuttgart und Umgebung (Landkreis Esslingen, Landkreis Ludwigsburg, Rems-Murr-Kreis).[14] Die höchste Wahlbeteiligung gab es in der Gemeinde Seekirch im Landkreis Biberach mit 96,4 Prozent, die geringste in der Gemeinde Hügelsheim mit 25,7 Prozent.

Wahlergebnis

Mit 58,9 Prozent der Stimmen wurde die Gesetzesvorlage abgelehnt („Nein“). Somit entschied sich die Mehrheit der Teilnehmer gegen die Verpflichtung der Landesregierung, Kündigungsrechte zur Auflösung der vertraglichen Vereinbarungen mit Finanzierungspflichten des Landes bezüglich des Bahnprojekts Stuttgart 21 auszuüben.

Mehrheiten der gültigen Stimmen für (grün) und gegen (rot) die Gesetzesvorlage auf Kreisebene
Mehrheiten der gültigen Stimmen für (grün) und gegen (rot) die Gesetzesvorlage auf Gemeindeebene
Anteile der Ja- (hellgrün) und Nein-Stimmen (orange) der Stimmberechtigten in den 44 Wahlkreisen.
Dazwischen der Anteil der Nichtwähler und ungültigen Stimmen (grau).
Alle Angaben in Prozent[15]
Stadtkreis/Landkreis Beteiligung Anteil an gültigen Stimmen
Ja Nein
Alb-Donau-Kreis 55,2 23,0 77,0
Baden-Baden (Stadt) 38,9 46,4 53,6
Biberach 50,7 24,5 75,5
Böblingen 59,0 35,7 64,3
Bodenseekreis 47,1 42,4 57,6
Breisgau-Hochschwarzwald 43,4 51,5 48,5
Calw 52,6 32,6 67,4
Emmendingen 41,0 54,9 45,1
Enzkreis 50,7 36,8 63,2
Esslingen 62,3 39,6 60,4
Freiburg im Breisgau (Stadt) 44,6 66,5 33,5
Freudenstadt 48,3 31,6 68,4
Göppingen 53,7 37,0 63,0
Heidelberg (Stadt) 41,9 58,0 42,0
Heidenheim 45,9 34,4 65,6
Heilbronn (Land) 47,2 36,5 63,5
Heilbronn (Stadt) 41,4 41,3 58,7
Hohenlohekreis 44,8 35,8 64,2
Karlsruhe (Land) 42,2 42,0 58,0
Karlsruhe (Stadt) 40,8 53,6 46,4
Konstanz 43,6 49,8 50,2
Lörrach 37,7 53,6 46,4
Ludwigsburg 60,6 38,4 61,6
Main-Tauber-Kreis 40,5 37,7 62,3
Mannheim (Stadt) 33,3 57,2 42,8
Neckar-Odenwald-Kreis 38,4 35,8 64,2
Ortenaukreis 37,6 44,0 56,0
Ostalbkreis 49,7 31,9 68,1
Pforzheim (Stadt) 37,1 40,9 59,1
Rastatt 36,2 45,2 54,8
Ravensburg 45,8 39,7 60,3
Rems-Murr-Kreis 60,3 36,5 63,5
Reutlingen 54,2 37,3 62,7
Rhein-Neckar-Kreis 38,9 48,6 51,4
Rottweil 47,9 35,0 65,0
Schwäbisch Hall 45,3 43,1 56,9
Schwarzwald-Baar-Kreis 41,2 41,3 58,7
Sigmaringen 47,6 32,5 67,5
Stuttgart (Stadt) 67,8 47,1 52,9
Tübingen 58,7 47,8 52,2
Tuttlingen 45,7 31,8 68,2
Ulm (Stadt) 52,1 30,9 69,1
Waldshut 39,3 44,2 55,8
Zollernalbkreis 47,7 33,4 66,6
Land Baden-Württemberg 48,3 41,1 58,9

Nur in sieben von 44 Stadt- und Landkreisen stimmte eine Mehrheit für das Gesetz, wobei das bereits angegebene „Quorum“ nirgends erreicht wurde.

Auf Gemeindeebene wurde das Gesetz in 104 von 1101 Gemeinden angenommen, am deutlichsten in der Stadt Freiburg im Breisgau. Das Quorum wurde dabei in vier Gemeinden erfüllt: in Mühlhausen im Täle, Sulzburg, Tübingen und Vörstetten.

Umfrage im Vorfeld

Eine repräsentative Umfrage des Marktforschungsunternehmens TNS Infratest im Auftrag der Stuttgarter Zeitung, des Südwestrundfunks, der Bertelsmann Stiftung und der Universität Stuttgart ergab in der Woche vor der Volksabstimmung, dass 55 Prozent gegen die Kündigung der Finanzierungsvereinbarung stimmen würden.[16]

Literatur

  • Landeshauptstadt Stuttgart (Hrsg.): Die Volksabstimmung am 27. November 2011 in Stuttgart. (Reihe Statistik und Informationsmanagement Themenhefte, Band 2/2011).

Weblinks

Commons: Volksabstimmung zu Stuttgart 21 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Bündnis 90/Die Grünen, SPD (Hrsg.): Der Wechsel beginnt. Koalitionsvertrag zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD Baden-Württemberg Baden-Württemberg 2011 - 2016, S. 30 f. (PDF-Datei, 0,9 MB).
  2. Staatsministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Landesregierung gibt Entwurf eines S 21 - Kündigungsgesetzes zur Anhörung frei. Stuttgart, 26. Juli 2011, abgerufen am 12. August 2011.
  3. Landesregierung Baden-Württemberg: Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S 21 - Kündigungsgesetz). Entwurf mit Stand vom 25. Juli 2011. (PDF-Datei).
  4. Landtag Baden-Württemberg: Beschlüsse der 13. Plenarsitzung vom 28. September 2011
  5. Landesverfassungsartikel 60[1]
  6. a b Auftrag erfüllt, die tageszeitung, Artikel vom 5. Oktober 2010
  7. Volksabstimmung verfassungswidrig, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Artikel vom 6. Oktober 2010
  8. Gutachten steht gegen Gutachten, Stuttgarter Zeitung, Artikel vom 5. Oktober 2010
  9. BVerfG, 2 BvR 2333/11 vom 21.11.2011
  10. Vor der Volksabstimmung in Baden-Württemberg am 27. November 2011: Gut 7,6 Millionen Stimmberechtigte zur Stimmabgabe aufgerufen, Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, vom 16. November 2011, aufgerufen am 27. November 2011
  11. http://www.swp.de/reutlingen/lokales/reutlingen/Stuttgart-21-Bahnhof-Kopfbahnhof-Tiefbahnhof-Abstimmung-Volksentscheid-Quorum-Gruen-Rot;art5674,1232548
  12. http://www.statistik-bw.de/Wahlen/Volksabstimmung_2011/
  13. http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/Wahlen/Landtagswahl_2011/Land.asp
  14. http://www.statistik-bw.de/Wahlen/Volksabstimmung_2011/
  15. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Ergebnisse der Volksabstimmung in den jeweiligen Stadt- und Landkreisen
  16. Mehrheit will für Stuttgart 21 stimmen in: Stuttgarter Zeitung (online) vom 17. November 2011