Frank Castorf

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Frank Castorf (* 17. Juli 1951 in Berlin[1]) ist ein deutscher Regisseur und Intendant der Volksbühne Berlin.

Leben

Castorf absolvierte von 1969 bis 1970 eine Ausbildung bei der Deutschen Reichsbahn und beschloss diese mit einem Facharbeiterabschluss.[1] Nach dem Wehrdienst bei den Grenztruppen der NVA studierte er von 1971 bis 1976 Theaterwissenschaft bei Ernst Schumacher, Rudolf Münz und Joachim Fiebach an der Humboldt-Universität zu Berlin.[2] Das Thema seiner Diplomarbeit lautete: „Grundlinien der ‚Entwicklung‘ der weltanschaulich-ideologischen und künstlerisch-ästhetischen Positionen Ionescos zur Wirklichkeit“ und wurde mit der Note „sehr gut“ bewertet.[2]

Von 1976 bis 1979 war er Dramaturg am Bergarbeitertheater Senftenberg und 1979–1981 Regisseur am Stadttheater Brandenburg (Havel).[1][3] Von 1981 bis 1985 war Castorf Oberspielleiter am Theater Anklam.[1] Dort wurde 1984 seine Inszenierung von Bertolt Brechts Trommeln in der Nacht auf Druck der SED-Kreisleitung abgesetzt. Es kam zu einem Disziplinarverfahren und er wurde fristlos entlassen.[4] In der Folgezeit arbeitete Castorf unter anderem für das Schauspielhaus Karl-Marx-Stadt, das Neue Theater Halle, die Volksbühne Berlin und das Deutsche Theater Berlin. Seine Inszenierung von Der Volksfeind (Henrik Ibsen) wurde mit einer Einladung zum Theaterfestival der DDR bedacht.[1]

Bereits vor der Wende durfte er 1989 an westdeutschen Bühnen, unter anderem am Bayerischen Staatsschauspiel in München (Miss Sara Sampson von Gotthold Ephraim Lessing) und am Schauspiel Köln (Hamlet von William Shakespeare), inszenieren.[5] 1990 wurde er Hausregisseur am Deutschen Theater Berlin.[3] Seine dortige Inszenierung von Ibsens „John Gabriel Borkmann“ erhielt 1991 eine Einladung zum Berliner Theatertreffen.[6] Kontroversen löste Castorf mit seiner Basler Version von Wilhelm Tell (Friedrich Schiller) zum Schweizer 700-Jahr-Nationaljubiläum aus, in der er mit dem Selbstverständnis der Schweiz abrechnete und Parallelen zwischen der Schweiz und der DDR zog.[1][7] Seit 1992 wirkt Castorf als Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte; er verlängerte seinen Vertrag zuletzt 2012 bis zum Jahr 2016.[1][3] Das Haus erhielt 1993 gleich im ersten Jahr seiner Intendanz den von der Zeitschrift „Theater heute“ ausgelobten Titel als „Theater des Jahres“.[1]

1994 wurde er mit dem Fritz-Kortner-Preis ausgezeichnet.[8] 1998 lieferte er in Basel mit Otello (Giuseppe Verdi) seine erste Operninszenierung ab.[9] Im Jahr 2000 erhielt er gemeinsam mit dem Schauspieler Henry Hübchen den Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung und eine Nominierung für den Nestroy-Theaterpreis, 2002 den Schillerpreis der Stadt Mannheim; 2003 wurde er mit dem Preis des Internationalen Theaterinstituts (ITI) und dem Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost ausgezeichnet.[1] Die Zeitschrift Theater heute wählte Castorf in den Jahren 2002 und 2003 zum „Regisseur des Jahres“.

Im Jahr 2004 war Castorf neben seiner Tätigkeit als Intendant an der Berliner Volksbühne auch kurzzeitig künstlerischer Leiter der Ruhrfestspiele Recklinghausen, als der er jedoch bereits einen Monat nach der Eröffnungspremiere Gier nach Gold (Frank Norris) aufgrund eines erheblichen Einbruchs der Zuschauerzahlen vom Aufsichtsrat vorzeitig entlassen wurde.[10] Die Entlassung wurde im Feuilleton breit diskutiert. Ein Rechtsstreit, den Castorf nach seiner Entlassung gegen die Ruhrfestspiele anstrengte, wurde Anfang 2005 nach einer Schlichtung eingestellt; es wurden zwei Kooperationen zwischen der Volksbühne und dem Festival vereinbart und die Träger der Ruhrfestspiele, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Stadt Recklinghausen, gestanden Castorf Fortzahlung eines Teils des Gehalts zu.[11]

2013 inszenierte er zum 200. Geburtstag Richard Wagners bei den 102. Bayreuther Festspielen den Ring des Nibelungen (Premiere: 26. bis 31. Juli; musikalische Leitung: Kirill Petrenko).

Theaterarbeit

Castorfs Inszenierungen können dem zugerechnet werden, was seit einigen Jahren, sowohl in der Theaterwissenschaft als auch im Feuilleton, als postdramatisches Theater bezeichnet wird. So liegt seinen Inszenierungen und seiner Arbeitsweise in der Regel eine Haltung zugrunde, die sich wesentlich vom „normalen“ Arbeitsprozess unterscheidet. Castorf gebraucht eine literarische Vorlage zumeist, um durch biographische Details, Verfremdungsmittel wie Unsinn, Slapstick, Derbheiten eine eigenartige, „private“ Sicht auf das Treiben seiner Schauspieler auf der Bühne zu erzeugen, was Castorf regelmäßig den Vorwurf einbrachte, ein „Stückezertrümmerer“ zu sein und konservative Theatergänger auf die Barrikaden rief. Ein Hauptmittel hierzu spielt seit einigen Jahren der intensive, experimentelle Gebrauch von Videokameras und Leinwänden, die eine eigenartige Wahrnehmungsperspektive ermöglichen. Trotz aller Kritik, die von verächtlicher Polemik bis zur intellektuellen Auseinandersetzung reicht, genießt die Berliner Volksbühne unter Castorfs Leitung seit Jahren so etwas wie Kultstatus, insbesondere unter jüngeren Leuten, die den Theaterbesuch regelmäßig als „Party-Ersatz“ wahrnehmen. Darüber hinaus darf Castorfs Theaterarbeit als ernstzunehmende und richtungsweisende Experimentalästhetik gelten, die seit Beginn seiner Intendanz im Jahr 1992 bundesweit für neue Tendenzen ausschlaggebend gewesen ist, so etwa in der Frage nach der Ästhetik eines politischen Theaters. In diesem Zusammenhang sorgte eine Äußerung Castorfs für einen Skandal, nach der er sich nach Stahlgewittern sehne, worunter nichts anderes gemeint war, als dass Emotionalität, unmoralische Aggressionen und die Intensität physischer Erfahrungen zu seinem Programm und seiner „Sehnsucht“ gehörten, was die westdeutsche Presse allgemein als „faschistoides Gedenke“ verurteilte und Castorf in einem Atemzug mit dem Regisseur Einar Schleef erwähnte.

Es geht Castorf laut eigener Aussage darum, einen Zustand von „einmaliger Realität“ auf der Bühne herstellen zu können, so dass die Probleme, Schicksale und Zustände der Figuren auch immer als Zustände, Schicksale und Probleme der Schauspieler begriffen werden und so auf menschlich greifbare Weise ihre Wirkung zeigen. Das bedeutet nicht, dass die Schauspieler dieselben Sorgen tragen, aber sie müssen sie „lebendig“ vermitteln können. Einfühlung oder verfremdendes Spiel wie bei Stanislawski oder Brecht interessieren Castorf nicht; er glaubt nicht an die Möglichkeit einer mimetischen Wiedergabe von Weltzuständen auf der Bühne und will kein „als-ob-Theater“ inszenieren. Stattdessen suchen seine Schauspieler durch physische Höchstanstrenungen diesen Zustand zu erreichen, so dass sich der „Sinn“ von selbst, in der wahrnehmenden Haltung des Zuschauers, einstellt. Den Schauspielern wird hierfür bereits auf Proben die Möglichkeit gegeben, sich so weit als möglich auf experimentelle Weise mit den Vorgaben auseinanderzusetzen, um so spontane Spielzustände und Momente der „Echtheit“ ausprobieren zu können. Insofern unterscheidet sich Castorfs Probenarbeit deutlich von konventionellen Probenprozessen, die von einem leitenden Regisseur kontrolliert werden. Gleichwohl behält sich Castorf ausdrücklich das Recht auf Zustimmung oder Ablehnung von Einfällen, Ideen, Anreicherungen oder Spielweisen vor.

Die „Komplexität der Welt“ wird auf der schriftlichen Grundlage von Dramen oder seit einigen Jahren auch Romanen der Weltliteratur thematisiert. Autoren wie Dostojewski, Bulgakow, Tennessee Williams, Pitigrilli aber auch Heiner Müller oder Bertolt Brecht liefern den Stoff für Castorfs Inszenierungen. Die Texte liefern jedoch lediglich Versatzstücke und werden nach persönlichen Vorlieben zensiert, gekürzt, größtenteils durch Assoziationsmaterial, Filmzitate, fremde Dramen, politische Reden oder Manifeste, philosophische Texte oder Songs ergänzt und verfremdet. Eine komplexe gesellschaftliche oder anthropologische Dimension eines Romantextes etwa wird durch entsprechende Inszenierungsmittel auf eine „menschlich-nahe“ Ebene reduziert, die erzählbar und verständlich ist und so implizit die große Idee, etwa Politik, auf „menschliche“ Weise vermittelt.

Ensemble

Künstler, mit denen Castorf regelmäßig arbeitet, beziehungsweise bereits gearbeitet hat, sind u.a.:

Inszenierungen (Auswahl)

[Quellen: Die Liste der Inszenierungen bis 1995 folgt, soweit nicht anders angegeben, dem Regieverzeichnis bei Jürgen Balitzki: Castorf, der Eisenhändler. Theater zwischen Kartoffelsalat und Stahlgewitter. 1995, S. 234–237; danach bis einschließlich 2012 basierend auf Presseberichten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Schauspielpremieren“), ergänzt um Angaben aus dem Munzinger-Archiv sowie Besprechungen von nachtkritik.de (ab 2007)]

Auszeichnungen

Literatur

  • T., Hockenbrink: Karneval statt Klassenkampf. Das Politische in Frank Castorfs Theater, Marburg: Tectum Verlag 2008, ISBN 3-8288-9819-X
  • S. Wilzopolski Theater des Augenblicks: Die Theaterarbeit Frank Castorfs. Eine Dokumentation, Berlin 1992, ISBN 3-929333-12-0
  • J. Balitzki Castorf, der Eisenhändler. Theater zwischen Kartoffelsalat und Stahlgewitter, Berlin 1995, ISBN 3-86153-092-9
  • H.-D. Schütt Die Erotik des Verrats. Gespräche mit Frank Castorf, Berlin 1996, ISBN 3-320-01916-3
  • R. Detje Castorf: Provokation aus Prinzip, 2002
  • J. Wangemann Prärie. Ein Benutzerhandbuch, Berlin 2006, ISBN 3-89581-156-4.
  • Frank Castorf, Forever Young. Hg. von Carl Hegemann, Berlin, Alexander Verlag 2003.
  • Endstation. Sehnsucht. Programmheft zur Inszenierung „Endstation Sehnsucht“ von Frank Castorf. Hg. von Carl Hegemann, Berlin, Alexander Verlag 2000.
  • Glück ohne Ende. Programmheft zur Inszenierung „Elementarteilchen“ von Frank Castorf. Hg. von Carl Hegemann, Berlin, Alexander Verlag 2000.
  • Erniedrigung geniessen. Programmheft zur Inszenierung „Erniedrigte und Beleidigte“ von Frank Castorf. Hg. von Carl Hegemann, Berlin, Alexander Verlag 2001.
  • Einbruch der Realität. Mit einem Text von Frank Castorf. Hg. von Carl Hegemann, Berlin, Alexander Verlag 2002.
  • Das Schwindelerregende. Zu Frank Castorfs Inszenierung „Kokain“. Hg. von Carl Hegemann, Berlin, Alexander Verlag 2004.
  • Kurzbiografie zu: Castorf, Frank. In: Wer war wer in der DDR? 5. AusgabeBand 1. Ch. Links, Berlin 2010, ISBN 978-3-86153-561-4.

Anmerkungen

  1. a b c d e f g h i Castorf, Frank im Munzinger-Archiv, abgerufen am 3. November 2012 (Artikelanfang frei abrufbar).
  2. a b Jörg Wagner und Heike Zappe: „Das hatte etwas Verwunschenes, Dornröschenmäßiges“. Interview mit Frank Castorf. Abgerufen am 3. November 2012.
  3. a b c Till Briegleb: Frank Castorf. Goethe-Institut, abgerufen am 3. November 2012.
  4. Balitzki: Castorf, der Eisenhändler. Theater zwischen Kartoffelsalat und Stahlgewitter. 1995, S. 227.
  5. Andreas Rossmann: Im Bannkreis des Schwindels. „Hamlet“ aus der Sicht des DDR-Regisseur Frank Castorf beim Schauspiel Köln. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 27. April 1989, S. 33; Premieren im Oktober. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 30. September 1989, S. 29.
  6. Sechse äffen. Auswahl zum Berliner Theatertreffen 1991. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2. März 1991, S. 25.
  7. Barbara Villiger Heilig und Tobi Müller: Die erträgliche Schwierigkeit des Seins. Interview mit Frank Castorf. In: Neue Zürcher Zeitung. 24. März 2001, S. 85.
  8. Wagemut. Fritz-Kortner-Preis für Frank Castorf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 17. November 1994, S. 35.
  9. Frieder Reininghaus: Historisch entkleidet, psychisch entblößt. Frank Castorf inszeniert Verdis „Otello“ in Basel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 16. September 1998, S. 39.
  10. Ruhrfestspiele. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 21. Juni 2004, S. 31.
  11. Abgefunden. Castorf mit Ruhrfestspielen einig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 20. Januar 2005, S. 34.
  12. Der Titel wurde kurz vor der Premiere aus rechtlichen Gründen in Amanullah Amanullah geändert. Vgl. Dirk Pilz: So einen verwechselten Monarchen gibt es nur in Berlin. nachtkritik.de, abgerufen am 19. November 2012.