Aleviten

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Aleviten (türkisch Alevî, kurdisch und zazaisch Elewî; aus arabisch عَلَوِی ‚„Anhänger Alis“‘) sind Mitglieder einer vorwiegend in der Türkei beheimateten islamischen Glaubensrichtung, die auf das 13./14. Jahrhundert zurückgeht und mit dem Zuzug von turkmenischen Stämmen nach Anatolien entstand.

Eine Beziehung zum schiitischen Islam lässt sich über Ismail I. herstellen. Die Mehrheit der für Sunniten und Schiiten geltenden Verbote und Gebote aus dem Koran werden von den Aleviten nicht befolgt. Die Konfession bzw. Religion an sich wird als Alevitentum oder seltener Alevismus bezeichnet. Aleviten wurden früher, insbesondere im historischen Kontext der Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts, als Kizilbasch (Kızılbaş) bezeichnet. Diese Bezeichnung ist heute eher außer Gebrauch gekommen.

Die türkischen Aleviten sind nicht identisch mit den gleichnamigen Alawiten in Syrien, die in der Türkei auch „Arabische Aleviten“ genannt werden und früher als Nusairier bezeichnet wurden. Das Wort alevî kann im Türkischen als Synonym zu Schiit angesehen werden, bezeichnet meist aber, und im nichttürkischen Schrifttum so gut wie ausschließlich, die im vorstehenden Absatz dargestellte Gruppe.

Das Zülfikar, Schwert des Ali ibn Abi Talib, gilt als Identifikationssymbol der Aleviten.

Historische Entwicklung

Kalligrafische Darstellung des Namens Ali ibn Abi Talib in arabischer Sprache, im Alevitentum der erste von zwölf Imamen als Nachfolger Mohammeds

Ursprungstheorien

Über Ursprung und Charakter des Alevitentums gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die vorherrschende Meinung tendiert dahin, dass es sich um eine Glaubensrichtung innerhalb der Schia handele: Aleviten werden dann als eine Denomination der schiitischen Muslime klassifiziert,[1] da sie wesentliche Glaubensinhalte der Zwölferschia über Ali und die sogenannten Vierzehn Unfehlbaren akzeptieren. Von orthodoxen Sunniten werden die Aleviten meist zu Gruppen der Ghulat („Übertreiber“) eingeordnet.

Der iranische Revolutionsführer Ajatollah Ruhollah Chomeini bestimmte die Aleviten in den 1970er Jahren als Teil der schiitischen Gemeinde.[2] Mitunter wird auch eine Beziehung zum Zoroastrismus behauptet, die sich historisch aber kaum belegen lässt. Überdies sind unter den Aleviten mehrere Richtungen zu erkennen, die der Schia unterschiedlich nahestehen.

Unterdrückung

Unter den Osmanen wurden die Aleviten als Häretiker verfolgt, insbesondere, weil sie sich 1514 mit den iranisch-safawidischen Schahs gegen die Osmanen verbündeten.

Im 16. Jahrhundert führte der aus Sivas stammende Dichter Pir Sultan Abdal alevitische Aufstände gegen die Osmanen an. Diese schlugen die Aufstände nieder und hängten Pir Sultan Abdal, der bis heute hohes Ansehen unter den Aleviten genießt.

Wegen der Unterdrückung und der bedrohten Lage der Aleviten unter der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft kam es im Laufe der Zeit immer wieder zu blutigen Aufständen. Erst seit der Gründung der modernen Türkei genießen sie in Teilen Glaubensfreiheit. Die Mehrheit der Aleviten unterstützte den von Kemal Atatürk verordneten Laizismus, weltlichen Rechtsstaat und die Demokratie. Die alevitische Bevölkerungsgruppe war eine der tragenden Kräfte bei der Gründung der türkischen Republik, weil sie sich insbesondere durch die Abschaffung der sunnitischen Rechtsordnung und die Einführung des Laizismus mit der Trennung von staatlichen und religiösen Angelegenheiten eine Gleichberechtigung mit der sunnitischen Glaubensrichtung erhoffte.

Verbreitung

Aleviten in der Türkei

Die Anzahl der Aleviten ist nicht exakt feststellbar, da keine verlässlichen Zahlenangaben vorliegen und viele Aleviten sich nicht öffentlich zu ihrem Glauben bekennen. Zudem wurden einige Aleviten assimiliert. Trotz der universalistischen Rhetorik (und im Gegensatz zum allgemeinen Islam oder dem Bektaschi-Orden) kennen alevitische Gemeinschaften nicht die Möglichkeit der Konversion zum Alevitentum.

Die etwaige Zahl reicht von weniger als 10 Millionen[3] bis 25 Millionen weltweit.[4] Alevitische Gemeinden sind in Zentralanatolien sowie in Thrakien konzentriert, speziell in einem Gürtel von Çorum im Westen bis Muş im Osten. Die einzige Provinz innerhalb der Türkei mit einer alevitischen Mehrheit ist Tunceli (früher als Dersim bekannt). Insgesamt gibt es 4382 türkische Orte, in denen Aleviten mehr als 50 % der Bevölkerung stellen: Davon sind 3929 Dörfer, 334 konfessionell gemischte Dörfer, 92 Städte, 16 konfessionell gemischte Städte, 9 alevitische Kreishauptstädte und 2 alevitische Provinzhauptstädte. Von den geschätzt 12,5 Millionen Aleviten wurden 2,9 Millionen assimiliert.[5]

Beginnend in den 1960er Jahren sind viele ländliche Aleviten in die großen Städte der westlichen und südlichen Türkei – sowie nach Westeuropa – ausgewandert und sind daher stark urbanisiert. Die Federation of Alevite Unions in Europe bildet eine alevitische Interessenvertretung in Europa.[6]

Die meisten Aleviten sind Türken und Turkmenen, eine Minderheit sind Kurden oder Zaza, andere wiederum sind Aserbaidschaner.[7] Außerhalb dieser gibt es auch Gemeinschaften in einigen Regionen Iranisch-Aserbaidschans. Die Stadt Ilchitschi (İlxıçı), welche sich 87 km südwestlich von Täbriz befindet, ist fast gänzlich von Aleviten bewohnt.

Auch in Griechenland gibt es eine einheimische, etwa 3000 Personen umfassende alevitische Gemeinschaft in Westthrakien.[8] In Bulgarien gibt es mehrere Zehntausend Bektaschi-Aleviten, die dort Aliani und Kizilbaschi genannt werden. Weiterhin leben auf Zypern ebenfalls alevitische Minderheiten.[9]

Allgemeine Glaubensinhalte

Der alevitische Glaube ersetzt die sogenannte Allah-Mohammed-Beziehung des Sunnitentums durch die Allah-Mohammed-Ali-Philosophie. So wird beim alevitischen Glaubensbekenntnis an die Schahāda das علي ولي الله / ʿAlīy walīyu ’llāh(i) / ‚Ali ist der Freund Gottes‘ hinzugefügt und viel über die Beziehung dieser Drei gesungen. Jedoch stellt letztere keine Trinität wie die des Christentums dar, sondern vermittelt vielmehr eine mystische Lehre.[10]

Das Ziel des Lebens im Alevitentum ist es, die Erleuchtung bzw. Vollkommenheit, den sogenannten Al-Insān al-Kāmil, zu erreichen. Diesen erreiche man, wenn man sich an die Regeln der 4 Tore, 40 Pforten, die vom Koran inspiriert wurden, hält und dabei Nächstenliebe, Geduld, Bescheidenheit und andere gute Werte zeigt und im öffentlichen Leben anwendet.

Strömungen im Alevitentum

Zur Frage des Modernismus gibt es drei Strömungen:

  • Der Gruppe der „modernen Aleviten“ ist bewusst, dass das Alevitentum nicht so wie vor mehreren Jahrzehnten in türkischen Dörfern praktiziert werden kann. Statt einer Isolierung vertreten diese Aleviten die Öffnung hin zur Gesellschaft, beispielsweise durch die Forderung, den alevitischen Glauben gesetzlich anzuerkennen und eigenen Religionsunterricht erteilen zu dürfen. Nach dieser Ansicht ist das Alevitentum eine Religion unter vielen in einer multireligiösen Gesellschaft, und es ist deswegen auch selbstverständlich, dass Menschen dem Alevitentum beitreten können. Diese Gruppen stehen in Nähe zum Kemalismus.
  • Die andere Gruppe will das ursprüngliche Alevitentum bewahren und lehnt jede „Modernisierung“ ab. Diese Gruppe steht in politischer Unterstützung durch islamisch geprägte Interessengemeinschaften.

Zur Frage der Zugehörigkeit zum Islam lassen sich im Alevismus derzeit fünf Strömungen feststellen:[11]

  1. Eine Gruppe von Aleviten sieht sich in erster Linie als Muslime und das Alevitentum als Teil oder in der Nähe des Sunnitentums. Sie versuchen deswegen auch eine Annäherung an den sunnitischen Islam zu erreichen, indem sie z. B. neben dem Cem-Gottesdienst auch das sunnitische Gebet in einer Moschee verrichten. Diese Gruppe steht in gutem Kontakt zum türkischen Nationalismus und wird beispielsweise durch die Cem-Stiftung (Cem Vakfı) von İzzettin Doğan vertreten.
  2. Eine Gruppe, die den Alevismus als eigenständige Spielart des Islam sieht, betont die Zugehörigkeit zum Islam, aber die Opposition zum Sunnitentum. Diese Strömung findet sich etwa in den Verbänden und Vereinen weiter verbreitet, die in der Federation of Alevite Unions in Europe repräsentiert sind.
  3. Eine Gruppe sieht den Alevismus als völlig eigenständige Religion, die nur durch den Islam beeinflusst wurde, ähnlich wie das Christentum vom Judentum beeinflusst wurde, ohne deswegen eine Strömung desselben zu sein. Besondere Ausprägung erhält diese Ansicht beispielsweise in der Işıkçılık-Bewegung.
  4. Eine Gruppe, die sich auf eine vorislamische Wurzel des Alevismus als Religion der Kurden beruft, mit einer Nähe zum Zoroastrismus und an Naturheiligtümern orientierter Volksreligiosität. Diese Gruppe steht in Nähe zu kurdischen Unabhängigkeitsbewegungen und ist unter Dersim-Aleviten verbreitet.
  5. Eine andere, relativ kleine Gruppe sieht den Alevismus in der Nähe der zwölferschiitischen Orthodoxie. Sie wird von der Islamischen Republik Iran unterstützt.

Damit spiegeln sich besonders im Alevitentum die ethnischen, politisch-nationalistischen und religiösen Konflikte des Nahen und Mittleren Ostens. Aleviten sind in der Türkei wie in der europäischen Diaspora vertreten, doch herrschen politisch und religiös verschiedene Orientierungen vor.[11]

Lehre und Brauchtum

Das Alevitentum hat sich in seiner Theologie, nicht aber in seinem Verständnis des religiösen Rechtes, aus der islamischen Schia entwickelt. Es hat dazu viele Elemente aus den verschiedensten vorislamischen Religionen Mesopotamiens sowie aus dem Sufismus (islamische Mystik) in sich aufgenommen. Von Religionswissenschaftlern und einer zunehmenden Zahl von Anhängern wird das synkretistische Alevitentum als eine eigenständige Konfession innerhalb des Islam aufgefasst. Die Mehrheit der Aleviten (besonders türkische) sehen sich als Teil des Islam, wohingegen eine Minderheit sich nicht dort zugehörig sieht.

Ein besonderes Merkmal der alevitischen Glaubensvorstellung ist die ausgeprägte Verehrung für Ali ibn Abu Talib (daher auch die Ableitung der Bezeichnung Alevite) bzw. für die auch von den Schiiten verehrten zwölf Imame, die – bis auf den zwölften – allesamt ermordet wurden; der zwölfte lebe im Verborgenen weiter bis zu seiner Wiederkehr. Aus diesem Grund werden sie dem schiitischen Zweig des Islam zugerechnet. Dennoch gibt es wesentliche Unterschiede zu den Lehren der imamitischen Schia (zum Beispiel im Iran), insbesondere in theologischen Auslegungen, etwa zur Gottes- und Glaubensvorstellung, sowie in der Ausübung des Glaubens. Auch innerhalb des Alevitentums sind darin Unterschiede festzustellen, die auf andere sprachliche oder ethnische Zugehörigkeit und auf Binnendifferenzierung des Alevitentums selbst zurückzuführen sind (vgl. etwa die Entwicklung der Bektaschi).

Aleviten beten nicht in Moscheen und legen den Koran nicht wörtlich aus, sondern suchen die Bedeutung hinter den Offenbarungen. Sie leben nicht nach den „Fünf Säulen des Islam“.

Ein zentrales Element ihrer Glaubensauffassung ist der in den Mittelpunkt gerückte Mensch. Die Aleviten identifizieren sich mit der Leidensgeschichte der Opposition im Islam – den Schiiten. Gleichzeitig verehrten sie Ali als Schutzpatron gegen Anfeindungen des orthodoxen Islam. Zudem glauben die Aleviten wie die Imamiten an die zwölf Imame. Das Martyrium des dritten Imams al-Ḥusain ibn ʿAlī ist eine Gemeinsamkeit bei Schiiten und Aleviten, an dem sich ihr kollektives Trauerbewusstsein manifestiert.

Aleviten halten sich nicht an religiöse Vorschriften, die für orthodoxe Muslime als Pflicht und Voraussetzung gelten. Nach alevitischem Verständnis ist die Scharia (religiöses Gesetz) bzw. die Oberfläche, das Offensichtliche, in der Religion überwunden, da das Alevitentum die Mystik zum Fundament hat. Dennoch gibt es in der alevitischen Theologie vier „Tore“, von denen das erste die Scharia darstellt.

Die Aleviten lehnen generell eine dogmatische Religionsauslegung ab; das Ritualgebet (Salāt) wird nicht in der konventionellen Form der Schiiten oder Sunniten verrichtet. Außerhalb des alevitischen Gottesdienstes (Cem) gibt es keine festen Gebetszeiten. Sie haben ihre eigenen Gebets- und Andachtsformen, ihre eigenen Pilgerstätten und Fastenpraktiken, die sich kaum mit denen anderer Muslime überschneiden. Wie die Schiiten halten sich die Aleviten an die Lehren der Imame, besonders die des sechsten Imams Dschaʿfar as-Sādiq.

Im Zentrum des alevitischen Glaubens steht der Mensch als eigenverantwortliches Wesen. Wichtig ist ihnen das Verhältnis zum Mitmenschen. Die Frage nach dem Tod und den Jenseitsvorstellungen ist demgegenüber für sie nebensächlich. In der alevitischen Lehre ist die Seele eines jeden Menschen unsterblich; sie strebt durch die Erleuchtung die Vollkommenheit mit Gott an.

Diese liberalen Auffassungen, vor allem die Ablehnung der islamischen Scharia, unterscheiden Aleviten von den Sunniten. Darum haben viele Sunniten, vor allem die meisten islamischen Gelehrten, Vorbehalte gegenüber Aleviten und betrachten sie meist nicht als Angehörige der islamischen Gemeinschaft der „Umma“.

Das Alevitentum beinhaltet ebenfalls relevante Elemente aus dem Zoroastrismus. „Rechtes Handeln, rechtes Denken, rechtes Sprechen“ – dies sind Worte aus dem Zoroastrismus, doch werden sie so auch im Koran erwähnt. Die vier heiligen Elemente bei den Aleviten (Feuer, Wasser, Erde, Luft) entstammen ebenfalls aus der Lehre des Zoroastrismus, jedoch sind diese Elemente auch bei den nichtzoroastrischen Völkern Zentralasiens vorhanden (vgl. Vier-Elemente-Lehre).

Kurdische und zazaische Aleviten haben neben vielen Gemeinsamkeiten auch unterschiedliche Glaubensrituale und Lebensweisen. So ist der Hızır-Glaube (s. u.) bei kurdischen Aleviten gerade in der Region Tunceli viel ausgeprägter. Daneben praktizieren kurdische und Zaza-Aleviten das Gağan-(Kaland-)Fest, eine Art Knecht-Ruprecht/Nikolausfest, wie es auch in anderer Form im Christentum überliefert ist, jedoch mit denselben grundlegenden Motiven.

Die Hauptquellen des Alevitentums sind nicht allein der „Große Buyruk“ von Imam Dschafar ibn Muhammad as-Sadiq, wie häufig angenommen, sondern auch unzählige religiöse Gedichte und Lieder (Deyiş, Beyt, Duaz-i Imam). Aleviten waren aufgrund ihrer Verfolgung und Unterdrückung gezwungen, ihre Glaubensinhalte mündlich durch Lieder und Gedichte zu tradieren. Die Symbiose aus verschiedensten religiösen und mystischen Strömungen macht verständlich, dass die Aleviten zwar im Islam ihren Ursprung sehen, jedoch nicht den allseits anerkannten islamischen Gruppierungen zugerechnet werden wollen.

Gebet

Das Kartal Cemevi in Istanbul

Aleviten beten in der Regel nicht in einer Moschee sondern treffen sich zu Kulthandlungen, genannt Cem, in einem Cemevi (Versammlungshaus) zur Rezitation von Gedichten und zum rituellen Tanz (Semah). Dieser wird von Frauen und Männern gleichzeitig und gleichberechtigt ausgeführt und dabei vom Dede (»Großvater«) – gleichzusehen mit einem Imam, immer ein direkter Nachkomme der Ehlibeyt, der Familie bzw. dem Stamm des Mohammed, der den Koran genau kennen muss und dem auch der Besitz von besonderen Kräften (keramet) zugeschrieben wird – oder von der Ana (»Mutter«) beaufsichtigt. Dedes und Anas sind Personen, die von Imam Alis Linie abstammen und sich mit den alevitischen Ritualen und Traditionen sehr gut auskennen. Sie verfügen über ein hohes Maß an Wissen, welches ihre geistige und menschliche Kompetenz auszeichnet. Sie genießen ein hohes Ansehen unter den Aleviten. Wenn jedoch kein Dede zur Verfügung steht, um ein Cem zu leiten, darf jeder andere Alevite, der sich mit den Ritualen auskennt, einen solchen Gottesdienst leiten.

Während der Cem früher (vor der zunehmenden Abwanderung weiter Teile der alevitischen Bevölkerung Ostanatoliens in den Westen der Türkei) unregelmäßig stattfand – in dörflichen alevitischen Gemeinschaften immer dann, wenn ein Dede ins Dorf kam –, erlebte dieses alevitische Ritual im Zuge der zunehmenden Urbanisierung des Alevitentums, die sich seit mehreren Jahrzehnten beschleunigt vollzieht, eine gewisse Umgestaltung:

Der Cem wird nun in regelmäßigen Abständen, oftmals wöchentlich, abgehalten. Ort für die religiös-mystischen Glaubenshandlungen sind: Versammlungshäuser, die von alevitischen Vereinigungen und Kulturvereinen zur Verfügung gestellt werden; aus den Dörfern mitgebrachte heterogene Ritualelemente werden dabei vereinheitlicht. Auf diesem Wege ist der Cem in den letzten Jahren zu einem prominenten Mittel der bewussten Neubestimmung alevitischer Identität in der Türkei geworden, die sich seit dem Militärputsch von 1980, in dessen Folgezeit ein gewisses Wiedererstarken sunnitischer politisch-religiöser Kräfte verzeichnet werden konnte, in einem konstanten Prozess der Wiederentdeckung und Neuverortung kultureller, religiöser und geschichtlicher Art befindet.

Der Semah ist ein wichtiger ritueller Tanz und gehört zu den zwölf Pflichten in der Cem-Veranstaltung. Sein Sinn ist das Einswerden mit Gott und der Natur. Er ähnelt in seiner Ausführung einem Reigentanz. Der Semah ist vielmehr ein Gebetsritual, der nur in der Cem-Zeremonie vorgetragen werden sollte. Der Semah wird von Frauen und Männer unterschiedlichen Alters (ohne Kinder unter vierzehn) gleichzeitig praktiziert. Die Semah-Mitglieder bewegen sich in einer kreisförmigen Figur. Dabei drehen sie sich zusätzlich um die eigene Achse. Die Handinnenfläche der rechten Hand zeigt nach oben und die linke Handinnenfläche ist auf den Boden gerichtet. Es finden keine körperlichen Kontakte, wie zum Beispiel Händehalten, zwischen den Teilnehmern statt. Die dabei dargestellte Figur, also das Drehen in einer „Kreisbahn“ und das Drehen um die eigene Achse, symbolisiert nicht nur das Universum (Evren) mit den Planeten des Sonnensystems und der Galaxie, also wie die Planeten in einer Umlaufbahn um die Sonne und um ihre eigene Achse kreisen, sondern es werden durch den Kreistanz darüber hinaus die ewigen Kreisläufe des Lebens und der Natur symbolisiert. Seit dem 12. Jahrhundert, vielleicht auch schon früher, diente dieser heilige Tanz zur geistigen Annäherung an Allah. Darum sollte er nach alevitischer Auffassung nicht öffentlich vorgeführt werden.

Die Verschleierung der Frau ist bei Aleviten nicht vorgeschrieben. Manche Aleviten nehmen sowohl am Cem-Gebet, als auch am Gebet in der Moschee teil und machen wie die Sunniten das Namaz-Gebet.

Hızır (Xızır)

Aleviten glauben, dass die Brüder Hızır und İlyas als Propheten gelebt und das sogenannte „Wasser der Unsterblichkeit“ getrunken haben. Diesem Glauben zufolge kommen die Brüder, ähnlich dem Dioskuren-Brüderpaar des Altertums, Castor und Pollux, Hilfsbedürftigen zu Hilfe. Hızır kommt den Hilfsbedürftigen zu Lande und İlyas denen zur See zur Hilfe. Sie seien für diejenigen bereit und sie retteten jene, die in Not geraten seien und „aus tiefem Herzen“ Hilfe erflehten. Sie brächten den Menschen Glück und Besitz. Nach einer Erzählung sei Hızır das erste Mal von Gefolgsleuten Noahs zur Hilfe gerufen worden und soll dessen mit Menschen und Tieren vollbeladenes Schiff gegen ein Unwetter geschützt haben. Nachdem das Schiff drei Tage einem Unwetter widerstanden habe, hätten die Geretteten drei Tage lang gefastet, um Hızır ihre Dankbarkeit zu beweisen.

In Anatolien wurde Hızır als ein charismatischer, weiser, auf einem Schimmel reitender Mann von Generation zu Generation mündlich tradiert. Er wird zu Hilfe gerufen; „Eile schnell herbei, lieber Hızır!“ („Yetiş ya Hızır!“) Im Volksmund wird er „Hızır mit Schimmel“ genannt, und es werden über ihn zahlreiche Geschichten erzählt.

Jedes Jahr wird unter den Aleviten in der zweiten Februarwoche das Fest des Hızır gefeiert. Von Dienstag an wird nach dem Abendmahl bis zum Abend nach drei Tagen gefastet. Viele Nachbarn und Bekannte kommen zusammen und erzählen Geschichten über Hızır. Begleitet vom Saiteninstrument Saz werden Lieder mit meditativem Inhalt vorgetragen, die tiefgründig, positiv stimmend und beruhigend sein sollen. Am Freitagabend schließlich werden auf den Friedhöfen die Verstorbenen besucht und Kerzen angezündet; den Kindern werden zu Hause zahlreiche Geschichten über Hızır erzählt.

Am letzten Fastentag wird inner- und außerhalb der Wohnung saubergemacht, was einer rituellen Reinigung gleichkommt. Am Abend bereitet man eine spezielle Speise (gavul) aus Weizenmehl vor, die die ganze Nacht offen ausgelegt wird. Jedes Familienmitglied wünscht sich dann etwas Besonderes. Man glaubt, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen, falls Hızır vorbeikommt und von der Speise probiert. Die Speise wird am nächsten Tag in und vor heiligen, symbolträchtigen Gedenkstätten an Nachbarn und Reisende verteilt. Jeder versucht, Speisen von allen Familien zu kosten, damit sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, jene Speise zu erwischen, von der Hızır probiert haben könnte.

Hızır als Begriff nimmt einen wichtigen Platz im Alltag der Aleviten ein. Viele Aleviten geben ihre Gelöbnisse im Namen Hızır und bitten oder erflehen etwas in seinem Namen. „Hızır sei Dank“, „Hızır möge kommen“, „Hızır auf dem Schimmel möge allen Menschen helfen und er möge alle bewachen“, „Es möge mal von Hızır sein“ u. a. sind einige bekannte Redewendungen. In manchen Gegenden werden Kindern, Bergen, Seen und Wegen die Namen Hızır und Xizir verliehen. Es gibt sogar einen religiösen Tanz namens „Hızır semahı“.

Vorschriften

Die alevitische Glaubenslehre basiert auf der Entscheidungs- und Glaubensfreiheit des Menschen. Niemand hat eine Verpflichtung, etwas tun oder glauben zu müssen.

Die Grundpfeiler der alevitischen Vorschriften sind in diesem einen Satz eline beline diline sahip ol vereint. Er besagt Folgendes:

  • eline sahip ol: Beherrsche deine Hände. Es steht für das negative Potenzial, wozu Hände imstande sind, also: Begehe keinen Diebstahl, zerstöre nicht und nutze deine Hände für etwas Sinnvolles.
  • beline sahip ol: Beherrsche deine Lende. Die Lende steht als Synonym für Triebe, insbesondere sexueller Natur.
  • diline sahip ol: Beherrsche deine Zunge. Die Zunge steht für Kommunikation und dass sie oft durch Unwahrheiten, aber auch durch unbedacht gewählte Wortwahl missbraucht wird und letztendlich eventuell mehr Leid erzeugen kann als vielleicht ein Schwert (z. B. Meineid, Verleumdung, Rufmord).

Die Verbote des Tötens, des Diebstahls, der Verleumdung und des Ehebruchs gelten für Aleviten gegenüber allen Menschen. Damit wollen sie die Menschlichkeit und das Zusammenleben aller Menschen fördern. Hinzu kommen alltägliche Vorschriften der Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und weitere.

Vier Tore, vierzig Pforten

  • Das erste Tor ist die Scharia, d. h. die Annahme der Gesetze und Pflichten der Gemeinschaft, in der man lebt.
  • Das zweite Tor ist die Tariqa, die Kenntnis der individuellen Rechte und Ansprüche, die man selber hat und stellt. Damit ist die Frage verbunden „Was begehre ich, was ist mein?“
  • Das dritte Tor ist die Marifa, die Erkenntnis des Nächsten. Damit ist die Frage verbunden: „Was begehrt der Mitmensch, was gehört dem Mitmenschen?“
  • Das Erreichen des vierten Tores, der Haqiqah, setzt die Beschäftigung mit den Rechten und Pflichten der Gemeinschaft voraus. Ab diesem Tor hat das jeweilige Individuum das Recht und die Möglichkeit, die Pflichten und Rechte der Gemeinschaft aus „Tor 1“ mitzugestalten.

Musik

Die Musik besitzt im Alevitentum eine überaus wichtige Funktion. Eine Cem-Zeremonie ohne Musik ist unvorstellbar und für die Ausübung der religiösen Pflichten unverzichtbar, so z. B. der Semah-Tanz. Für viele Aleviten gilt die auf der Bağlama gespielte Musik als eine göttliche Offenbarung. Ohne dieses Instrument hätte das Alevitentum womöglich eine fundamental andere Entwicklung eingeschlagen.

Musik soll eine tranceähnliche Atmosphäre erschaffen, durch die das Individuum einen spirituellen Einblick, eine Erkenntnis erlangen können soll. Nicht nur die Dedes (alevitische Geistliche) inspirieren ihre Gemeinde durch vorgetragene Lieder, sondern ebenso der Aşık (als musikalischer Spezialist des Dhikr heißt er Zâkir, als Volksmusiker Ozan). Aşık bedeutet „der vorbehaltlos Liebende“ und ist eine Bezeichnung, die die Beziehung des Musikers zu Gott zum Ausdruck bringt.

Mit ihren Klängen und teilweise religiösen Textinhalten über Ali, Schah Ismail, Pir Sultan Abdal etc. drücken sie ihre Sehnsucht nach einer besseren Welt aus, teilen mit anderen das Leid, das sie durch die Staatsmacht erleiden mussten oder müssen, und können den alevitischen Glauben an die nächste Generation mündlich weitervermitteln.

Viele ihrer Lieder scheinen die Sorgen der Aleviten widerzuspiegeln. Gerne hören sich ältere Aleviten im geselligen Kreis die traurigen Lieder an und weinen gemeinsam. Dieses kollektive Trauern ist eine typisch alevitische Bewältigung ihrer Situation und eint die Menschen und soll zur Erfahrung von Transzendenz führen.

Der Aşık (arab. aschiq, „der Liebende“) von heute singt und spielt mit seiner Bağlama nicht mehr wie früher auf dem Dorfplatz, vielmehr ist er in Musikcafés anzutreffen. Die alevitische Musik soll dazu beitragen, die Gemeinschaft im Ganzen zusammenzuhalten, ihr ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu vermitteln und dem Individuum zur Identitätsbildung zu verhelfen.

Symbole

Ähnlich wie schiitische Glaubensgemeinschaften tragen auch viele Aleviten Ketten mit einem gebogenen Schwert (Zülfikar) als Anhänger. Damit zeigen sie ihre Anerkennung und Ehrfurcht gegenüber Ali ibn Abu Talib, dem man den Besitz eines gebogenen Schwertes mit Doppelspitze nachsagt. Diese Anhänger sind eher eine neue Erscheinung im Alevitentum. Ältere Aleviten kennen dies aus ihrer Jugend meist nicht. Als Angehörige einer unterdrückten Gemeinschaft war es nicht üblich und sogar gefährlich, sich offen zu erkennen zu geben.

Alljährlich findet vom 16. bis 18. August Hacı Bektaş-ı Veli zu Ehren ein Festival statt. Wichtige Vertreter aus Politik und Kultur präsentieren sich dabei gerne als Fürsprecher der alevitischen Kultur. Aus der ganzen Türkei reisen zahlreiche Pilger an, feiern und opfern gemeinsam mit ihren Glaubensgenossen. Zu jenen Tagen wird aus dem kleinen Ort Hacibektas ein Wallfahrtsort mit mehr als 100.000 Besuchern.

Die Sieben Großen Dichter

Der türkische Dichter Pir Sultan Abdal

Die Sieben Großen Dichter (Yedi Ulu Ozan) nehmen mit ihren Weisheiten, Dichtungen und Schriften eine wichtige Rolle bei den türkischen Aleviten ein und genießen auch auf dem Balkan sowie in Aserbaidschan und im Iran eine hohe Beachtung. Die während einer Cem-Zeremonie zitierten Dichtungen (Deyiş) stammen überwiegend von diesen Sieben Großen Dichtern. Zu ihnen zählen:

  • Nasīmī (um 1369–1417/18) – bestätigt
  • Pir Sultan Abdal (um 1480–1550) – bestätigt
  • Ismail I. (1501–1524) – bestätigt
  • Virani (16./17. Jahrhundert, wohl eher 10./11. Jahrhundert) – bestätigt
  • Fuzūlī (um 1480–1556)
  • Kul Himmet (16. Jahrhundert)
  • Yemini (16. Jahrhundert ?)
  • Kaygusuz Abdal (13. Jahrhundert) – ob Kaygusuz Abdal dazugezählt wird, ist umstritten, evtl. spielt seine (wie von vielen so bezeichnet) nichtturkmenische Herkunft eine Rolle, ob er Turkmene ist, wird nicht berichtet

Aleviten in der Türkei

Die größte alevitische Gemeinschaft existiert in der Türkei. Ihre Mitglieder stellen mit etwa 12,5 Millionen Anhängern schätzungsweise über 15 % der Bevölkerung,[12] in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es noch 30 %.[13] Die offiziell-staatliche Statistik weist 99,8 % Muslime aus. Die Aleviten leben in allen Provinzen der Türkei; traditionell sind dies vor allem die Provinzen Çorum, Amasya, Tokat, Sivas, Erzincan, Erzurum, Tunceli, Malatya und Kahramanmaraş. Durch Binnenmigration leben sie derzeit mehrheitlich in Großstädten wie Istanbul, Gaziantep, Ankara, Izmir und Bursa. Unter den Aleviten existieren unterschiedliche Richtungen:

Geschichte

Aufgrund ihrer Unterdrückung im Osmanischen Reich wurden die meisten Aleviten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Unterstützer Kemal Atatürks, da ein laizistischer Staat ohne Kalifat den Aleviten mehr Freiheiten gab als vorher.[14] Durch die neuen Gesetze des Staates wurden aber auch alle alevitischen Orden und Sekten geschlossen. So wurde das Haci-Bektas-Veli-Tekke in Nevşehir zu einem Museum umgebaut. 1937/38 fielen im Massaker von Dersim wahrscheinlich mehr als 10.000 Aleviten der türkischen Armee zum Opfer.[15]

Trotz der gesetzlichen Besserung kam es aber in der jüngeren Geschichte der Türkei zu Pogromen gegen Aleviten, so zum Beispiel 1978 in den Städten Çorum und Kahramanmaraş. 1993 wurde bei einem alevitischen Kulturfestival in Sivas ein Brandanschlag auf ein Hotel verübt, bei dem 37 Menschen – meist alevitische Künstler und Sänger – ums Leben kamen. Die Teilnehmer hatten sich dorthin zurückgezogen, nachdem Gegner das Fest angegriffen und die Teilnehmer massiv bedroht hatten. Ziel der Attacken war der Schriftsteller Aziz Nesin, der zuvor das Buch „Satanische VerseSalman Rushdies ins Türkische übersetzt und die zunehmende Islamisierung und allgemein die Zustände in der Türkei kritisiert hatte. Die Duldung dieses aggressiven Massakers und die nur sehr zögerlichen Rettungsaktionen ließen den Verdacht aufkommen, dass örtliche und staatliche Organe Partei für die Mehrheitsbevölkerung genommen hätten. Religiöse Extremisten bewerteten die Einladung von Aziz Nesin als Ehrengast zu einem alevitischen Fest als eine „politische und bewusste Provokation“ und als „Zeichen der Ablehnung der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft“.

Nach den seit 1924 gültigen Verfassungen der Türkei sind Sunniten und Aleviten gleichberechtigt. Allerdings werden sie in den letzten Jahren zunehmend diskriminiert und geraten besonders seit der Jahrtausendwende unter Druck der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft. Anschläge auf Aleviten häufen sich.[16]

Politische Rahmenbedingungen

Der türkische Staat subsumiert die Aleviten unter die islamischen Glaubensrichtungen. Auch heute noch betrachten die Aleviten eine laizistische Staatsform als Grundlage und Garantie ihrer Existenz. Doch wurden viele Aleviten und alevitische Gemeinden seit der Reislamisierung der Republik Türkei ab den 1970er Jahren durch die staatliche Behörde für (sunnitische) Religionsangelegenheiten, genannt Diyanet, assimiliert.[17]

Die Europäische Kommission hat die zunehmende Diskriminierung der Aleviten in der Türkei im Rahmen der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union mehrfach kritisiert, unter anderem in der „Empfehlung zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ vom Oktober 2004.[18] Ein Beitritt der Türkei zur EU ohne Anerkennung der Aleviten als konfessionelle Minderheit ist aufgrund der alle EU-Staaten verpflichtenden Religionsfreiheit daher undenkbar.[19]

Diskriminierung

Zwar dürfen die traditionellen alevitischen Feste inzwischen in der Türkei offen gefeiert werden, allerdings offiziell nicht als religiöse, sondern lediglich als Folklore­veranstaltungen. Dies ist in der recht speziellen Form der Trennung von Staat und Religion in der kemalistischen Türkei begründet und bereitet auch manchen sunnitischen Gemeinschaften Probleme bei ihrer Religionsausübung.

Selbst in mehrheitlich alevitischen Dörfern wurden sunnitische Moscheen gebaut. Es ist aber auch zu erwähnen, dass die alevitische Gemeinschaft, die nach Schätzungen zwischen 10 % und 20 % der Bevölkerung der Türkei ausmacht, im Gegensatz zur kurdischen Minderheit keine offizielle Partei mehr besitzt, die die Rechte der Aleviten verteidigen könnte (vgl. Birlik Partisi und Barış Partisi).

Eine Hauptforderung der Aleviten ist die Anerkennung der Cem-Stätten als Ort der Religionsausübung und damit eine Gleichstellung mit den Moscheen. Moscheen haben unter anderem das Privileg, dass die Rechnungen für Strom und Wasser von den Behörden beglichen werden, während Cem-Stätten privat betrieben werden müssen. Außerdem bekommen Vorbeter in der Moschee einen Beamtenlohn, während dies die alevitischen Vorbeter nicht bekommen. In einem Vorstoß erkannten das Bürgermeisteramt des Bezirkes Kuşadası der Provinz Aydın im September 2008 und das Bürgermeisteramt der Stadt Tunceli im Oktober 2008 die Cem-Stätten als gleichberechtigte Kultstätten an.[20][21]

Aleviten in Deutschland

Insgesamt leben in Deutschland rund 500.000 Aleviten, die zu 95 % aus der Türkei stammen. Mit einem Anteil von 13 % stellen die Aleviten nach den Sunniten die zweitgrößte Gruppe der in Deutschland lebenden Muslime.[22]

Von den türkischstämmigen Immigranten in Deutschland ist ein größerer Prozentsatz alevitisch als in der Bevölkerung der Türkei. Ein Grund dafür ist, dass die türkische Immigration nach Deutschland sich zu einem großen Teil aus Regionen speiste, die stark von Aleviten bewohnt waren. Zum anderen stand das türkische Alevitentum vor dem Militärputsch überwiegend auf Seiten der Opposition, weshalb in den 1980er Jahren viele Aleviten in Deutschland Asyl suchten und erhielten.

Viele Aleviten leben wegen der im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit gerne in Deutschland. Anders als im sunnitischen oder schiitischen Islam spielt die islamische Rechtsordnung Scharia im Alevitentum direkt keine Rolle. Deshalb stellt sich für Aleviten in Deutschland auch nicht die Frage, ob Scharia und Grundgesetz vereinbar sind.

Organisationen

Die Aleviten in Deutschland sind, verglichen mit den Aleviten weltweit und den Muslimen, in einem sehr hohen Grade organisiert, etwa in Verbänden und Gemeinden. Der erste gegründete und eingetragene Verein in Deutschland war Ahlen Hacı Bektaş Alevî Kültür Birligi e. V., der 1987 von Ahlen nach Hamm in Westfalen umzog und nun den Namen Hamm „Alevitischer Kulturverein“ (türkisch: Hamm Alevî Kültür Birliği – HAKBIR) trägt. Der zweite alevitische Kulturverein gründete sich 1987. Danach kamen noch weitere dazu, wie z. B. Mainz-Wiesbaden-Rüsselsheim Alevi-Bektasi-Kultur e. V. (1988) mit Sitz in Gustavsburg.

Größte alevitische Dachorganisation ist die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) mit Hauptsitz in Köln, der bundesweit 125 lokale Vereine angehören. Sie hat Gemeinden in Augsburg, Köln, Stuttgart, Mainz, Duisburg und anderen Städten.[23]

Mehr als 60 Prozent der eingeschriebenen Mitglieder sind, dem früheren Generalsekretär und ab 2010 zweitem Vorsitzenden der Alevitischen Gemeinde Deutschland Ali Ertan Toprak zufolge, mittlerweile deutsche Staatsbürger. Nach Topraks Ansicht ist es „unwürdig für einen Beitrittskandidaten“ der Europäischen Union, dass in der Türkei die Aleviten nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt seien.[24]

Für die Jugend ist der Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland zuständig.

Schulunterricht

Im Schuljahr 2006/2007 führte Baden-Württemberg den alevitischen Religionsunterricht ein; im April 2013 boten bereits 33 Schulen das Fach an. Oft werden dazu Schüler verschiedener Klassenstufen und aus mehreren Schulen einer Region zusammen unterrichtet.[25] In Nordrhein-Westfalen begann im Schuljahr 2008/09 in den Städten Köln, Wuppertal und Bergkamen an insgesamt vier Grundschulen der alevitische Religionsunterricht. In Duisburg wurde nach den Herbstferien 2008 ebenfalls ein erster Unterricht erteilt,[26] seit dem Schuljahr 2011/2012 gibt es ihn auch in Niedersachsen.[27] Die Alevitische Gemeinde Deutschland ist sehr bestrebt, alevitischen Religionsunterricht auf Deutsch in weiteren Bundesländern abhalten zu dürfen.

Andere Städte haben ebenfalls vor, alevitischen Religionsunterricht einzuführen. So erkannte der Berliner Senat z. B. das Kulturzentrum Anatolischer Aleviten im Jahr 2002 als Religionsgemeinschaft an; es kann deshalb nun alevitischen Religionsunterricht in den Berliner Grundschulen erteilen.

Darüber hinaus werden seit dem Sommersemester 2014 an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten Lehrer ausgebildet.

Kontroversen um Vorurteile

Am 23. Dezember 2007 lief im Fernsehsender „Das Erste“ (ARD) die Tatort-Folge „Wem Ehre gebührt“, die einen Inzest bei einer in Deutschland lebenden alevitischen Familie zum Gegenstand hatte. Der Fernsehfilm löste Proteste der alevitischen Gemeinde Deutschlands aus, da mit dieser Darstellung einer inzestuösen Beziehung innerhalb einer alevitischen Familie nun auch das deutsche Fernsehen eine in der Türkei seit Jahrhunderten gängige Verunglimpfung verbreite, die Aleviten von fundamentalistischen Sunniten erlitten hätten.[28] Der Ethnologe Martin Sökefeld verglich den Tatort – zur Verdeutlichung des klischeehaften Inhalts – mit einem Film, in dem ein geiziger jüdischer Kaufmann der Kindermörder wäre.[29]

Aleviten in Österreich

In Österreich ist der prozentuale Anteil der alevitischen Bevölkerung an der türkischen aus den oben genannten Gründen auch höher als der Anteil in der Türkei. Die Anzahl beläuft sich auf etwa 60.000, von denen etwa 12.000 in zwei Organisationen vertreten sind.[30] Vor deren staatlicher Eintragung bzw. Anerkennung galten die Aleviten als Angehörige des Islam, und alevitische Kinder mussten den sunnitisch-islamischen Religionsunterricht besuchen oder sich vom Religionsunterricht gänzlich abmelden. Nach mehreren misslungenen Anläufen, die alevitische Gemeinschaft in der Islamischen Glaubensgemeinschaft zu integrieren, einigte man sich auf die Gründung einer unabhängigen alevitischen Glaubensgemeinschaft. Davon erwarteten sich sowohl Aleviten als auch Sunniten Erleichterungen und den Abbau von Spannungen untereinander. Den Sunniten waren die Unterschiede in der Religionspraxis und in den Glaubensgrundsätzen zu groß. Gleichzeitig empfanden einige Aleviten es als unkorrekt, als „Muslime“ bezeichnet zu werden. Ihnen zufolge würde nur eine eigene Bezeichnung, Identität und Religionsgemeinschaft der kulturellen und religiösen Vielfalt gerecht.[31][32]

Der Kulturverein der Wiener Aleviten beantragte mit einem Schreiben vom 19. März 2009 die Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft unter dem Namen Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IAGÖ). Dieser Name war ihnen wichtig, um zu zeigen, dass es nicht nur eine Richtung des Islam gibt.[30] Der Antrag wurde zuerst durch das Kultusministerium abgewiesen, da es auf Grundlage des Islamgesetzes von 1912 mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich schon eine Vertretung aller Muslime gebe und keine zweite Gemeinschaft mit der Bezeichnung „islamisch“ zulässig sei. Am 1. Dezember 2010 wurde dies vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig eingestuft, und daher ist die Gemeinschaft seit dem 16. Dezember 2010 als gesetzlich anerkannte Glaubensgemeinschaft eingetragen.[33] Der IAGÖ gehörten etwa 7.000 Personen an.[30] Die IAGÖ/Kulturverein der Wiener Aleviten löste sich jedoch zum Zeitpunkt der staatlichen Eintragung aus dem Österreichischen Dachverband der Aleviten[34] und sieht sich seither als legitime Vertretung aller etwa 60.000 österreichischen Aleviten.[34] Mit Verordnung vom 22. Mai 2013 wurde die Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich als Religionsgesellschaft staatlich anerkannt.[35]

Die staatliche Anerkennung des Alevitentums als Religionsgemeinschaft, was sich insbesondere auf öffentliche Religionsausübung und Religionsunterricht bezieht, ist weltweit einzigartig,[32] doch zeigen sich die inneren Spaltungen auch im österreichischen Alevismus,[11] insbesondere im Bezug auf die Zuordnung zum Islam als Religion. Der Dachverband Föderation der Aleviten Gemeinden in Österreich (AABF), dessen Mitglieder sich nicht alle als Teil des Islam, sondern teilweise als eigenständige Glaubensgemeinschaft sehen, hatte am 9. April 2009 die Eintragung als Bekenntnisgemeinschaft unter dem Namen Alevitische Religionsgemeinschaft in Österreich beantragt.[34] Die vorgelegten Lehren waren bis auf einen Absatz über das Verhältnis zum Islam wortgleich mit jenen der IAGÖ. Deshalb und aufgrund des späteren Einbringens wurde der Antrag der nun etwa 5.000 Menschen vertretenden AABF zunächst abgewiesen. In Wien war die Neugründung einer eigenständigen Gemeinde im Gange,[30] und es wurde überlegt, gegen die Abweisung beim Verfassungsgerichtshof Beschwerde einzubringen.[36] Das Alevitische Kulturzentrum Österreich (AKÖ), ein Verein kurdisch-alevitischer Migranten, stellte einen dritten Antrag, der wegen formaler Fehler abgewiesen wurde.[11] Im August 2013 kam es doch noch zur staatlichen Eintragung einer Bekenntnisgemeinschaft, und zwar unter dem Namen Alt-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (AAGÖ). Dieser Status kann allenfalls nach zehn Jahren in eine vollwertige gesetzliche Anerkennung umgewandelt werden. In dieser Gemeinschaft ist besonders der kurdisch-nationalistisch orientierte Alevismus heimisch.[11]

Siehe auch

Literatur

  • Markus Dressler: Die alevitische Religion – Traditionslinien und Neubestimmungen. Ergon, Würzburg 1999, 2002, ISBN 3-89913-229-7.
  • İsmail Engin, Erhard Franz (Hrsg.): Aleviler. Siyaset ve örgütler. Politik und Organisationen. Mitteilungen. Bd. 61, Deutsches Orient-Institut, Hamburg 2001, ISBN 3-89173-062-4 ISSN 0177-4158 (türkisch, deutsch).
  • Andreas Gorzewski: Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam (Bonner Islamstudien 17). EB-Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-86893-009-2 (331 Seiten).
  • Burak Gümüş: Türkische Aleviten vom Osmanischen Reich bis in die heutige Türkei. Hartung-Gorre, Konstanz 2001, ISBN 3-89649-752-9.
  • Dimitri Kitsikis: Multiculturalism in the Ottoman Empire. The Alevi Religious and Cultural Community. In: P. Savard, B. Vigezzi (Hrsg.): Multiculturalism and the History of International Relations. Edizioni Unicopli, Milano 1999, ISBN 88-400-0535-8.
  • Aynur Şahin: Die Rechtsstellung alevitischer Gemeinden in Europa. Dissertation. Wien 2007.
  • Martin Sökefeld (Hrsg.): Aleviten in Deutschland: Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora. transcript, Bielefeld 2008, ISBN 3-89942-822-6.
  • Karin Vorhoff: Zwischen Glaube, Nation und neuer Gemeinschaft. Alevitische Identität in der Türkei der Gegenwart. Schwarz, Berlin 1995, ISBN 3-87997-214-1.

Weblinks

Bibliothek / Medien
Commons: Alevism – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Organisationen
Begrifflichkeiten / Beziehungen
Rituelle / Feiertage
Abstammung / Historien (West- und Ostaleviten)

Einzelnachweise

  1. Tracy Miller (Hrsg.) (Oktober 2009) (PDF): Mapping the Global Muslim Population: A Report on the Size and Distribution of the World’s Muslim Population. Pew Research Center, (online) (PDF; 11,2 MB) 8. Oktober 2009
  2. V. Nasr: The Shia Revival. S. 1, W. W. & Company, Inc, Norton 2006
  3. John Schindeldecker: From his Turkish Alevis Today.
  4. “Alevism,” from The Encyclopedia of the Orient.
  5. Akkiraz’dan Kılıçdaroğlu’na Alevi raporu, Hürriyet Fotoanaliz
  6. Yasemin Nuhoǧlu Soysal: Changing Parameters of Citizenship and Claims-Making: Organized Islam in European Public Spheres. In: Theory and Society. Band 26, Nr. 4, S. 509–527, 526, JSTOR:657859.
  7. David Zeidan: The Alevi of Anatolia, 1995.
  8. Αλεβίτες, οι άγνωστοι «συγγενείς» μας
  9. Kuzey Kıbrıs Türk Cumhuriyeti Alevi Kültür Merkezi, abgerufen am 24. August 2012
  10. Timo Güzelmansur: Gott und Mensch in der Lehre der anatolischen Alevitentum. Eine systematisch-theologische Reflexion aus christlicher Sicht. Regensburg 2012, ISBN 978-3-7917-2468-3.
  11. a b c d e Pelin Özmen, Thomas Schmidinger: AlevitInnen in Vorarlberg. Nr. 45 von Innsbrucker Diskussionspapiere zu Politik, Religion und Kunst (IDPRK), April 2013. 6. Identitätsbildung der AlevitInnen, S. 10 ff. (pdf, uibk.ac.at).
  12. Peter Alford Anders, Rüdiger Benninghaus (Hrsg.): Ethnic Groups in the Republic of Turkey. L. Reichert Verlag, Wiesbaden 1989, ISBN 3-88226-418-7, S. 48, 57.
  13. Hürriyet Fotoanaliz: Akkiraz’dan Kılıçdaroğlu’na Alevi raporu
  14. Aliza Marcus: „Should I Shoot You?“: An Eyewitness Account of an Alevi Uprising in Gazi. In: Middle East Report. Band 199, 1996, S. 24–26, S. 25, JSTOR:3012888.
  15. Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938. Chronos, Zürich 2000, S. 411.
  16. Aleviten geraten in der Türkei unter Druck, welt.de
  17. Gleichberechtigung für Minderheiten – auch in der Türkei, Zeit Online, abgerufen am 7. November 2012
  18. Europäische Kommission: Regelmäßiger Bericht über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt. 2004, S. 45 f., 56, 171 f., 180 (PDF).
  19. Europäische Kommission: Schlussfolgerungen zu Türkei. 2009, S. 2 (PDF).
  20. Su ücreti cami tarifesinden alınacak, Artikel aus der Milliyet vom 4. September 2008
  21. Tunceli’de cemevlerine ibadethane statüsü, Artikel aus der Milliyet vom 13. September 2008
  22. BAMF: Muslimisches Leben in Deutschland (2009); S. 314 gibt „zwischen 480.000 und 552.000“ an (PDF; 6 MB)
  23. Gemeinde in Stuttgart
  24. Appeasement an dieser Stelle wäre Verrat, FAZ, 8. Juni 2007
  25. Alevitischer Religionsunterricht in Kehl gestartet, Kehler Zeitung vom 16. April 2013
  26. In Krefeld wird seit September 2014 an zwei Schulen alevitischer Religionsunterricht erteilt. Alevitischer Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen gestartet, Meldung auf bildungsklick.de
  27. Alevitischer Religionsunterricht (ARU) in Niedersachsen, alevi.com
  28. Offizielle Stellungnahme der Alevitischen Gemeinde Deutschland e. V.
  29. „Die Auferstehung der Aleviten“, Spiegel online
  30. a b c d Orientierung, ORF2, 23. Januar 2011, 12:30
  31. Aleviten wollen eigene Glaubens-Gemeinschaft. In: Die Presse, 7. April 2009
  32. a b Muhamed Beganovic: Alevitentum zweigeteilt, wienerzeitung.at, 17. Juni 2013.
  33. Michael Weiß: Österreichs Aleviten sind selbstständig, religion.orf.at, 17. Dezember 2010
  34. a b c Presseerklärung der IAGÖ vom 21. Dezember 2010 (Memento vom 14. April 2011 im Internet Archive)
  35. Verordnung der Bundesministerin für Unterricht, Kunst und Kultur betreffend die Anerkennung der Anhänger der Islamischen Alevitischen Glaubensgemeinschaft als Religionsgemeinschaft vom 22. Mai 2013, BGBl. II Nr. 133/2013
  36. Nach Anerkennung: Österreichs Aleviten gespalten, religion.orf.at, 21. Dezember 2010