Politisches System der Türkei

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Die Türkei ist eine Republik. Nach Artikel 2 der Verfassung ist die Türkei ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Die Republik Türkei wurde unter der Führung Mustafa Kemal Atatürks gegründet. Ihre aktuelle Verfassung trat am 7. November 1982 in Kraft. Der gegenwärtige Präsident ist Recep Tayyip Erdoğan, Ministerpräsident ist Binali Yıldırım. Beim Verfassungsreferendum am 12. September 2010 stimmten die Wähler auf Empfehlung des Ministerpräsidenten für zahlreiche Änderungen der seit 1982 gültigen Verfassung der Republik Türkei und votierten für die Stärkung der Gleichberechtigung, die Stärkung der Rechte von Gewerkschaften und die Beschränkung der Rechte des türkischen Militärs.

Historischer Kontext

Die Türkische Republik geht auf Mustafa Kemal Atatürk zurück. Am 29. Oktober 1923 proklamierte die Große Nationalversammlung der Türkei die Gründung der Republik. Der Staat basierte auf dem nach ihm benannten Kemalismus. Das Kalifat wurde abgeschafft und jegliche institutionelle und rechtliche Einflussnahme religiöser Instanzen auf den Staat unterbunden. Religiöse Normen wurden im öffentlichen Leben abgeschafft, vielmehr die Religion der Aufsicht des Staates unterworfen. Mit der Kommunalwahl in der Türkei 1930 fanden erstmals in der 800-jährigen türkischen und osmanischen Geschichte Wahlen im Rahmen eines Mehrparteiensystems statt.

1937 wurden die 6 Prinzipien des Kemalismus in der Verfassung[1] verankert. In abgeschwächter und generalisierter Form („durchdrungen … vom Geist der Reformen Atatürks“) finden sie sich noch heute in der Präambel der türkischen Verfassung und der Staatzielbestimmungen in deren Artikel 2. 1946 wurde endgültig wieder ein Mehrparteiensystem eingeführt.

Das türkische Militär hat sich bis heute dreimal an die Macht geputscht (1960–1961, 1971–1973 und zuletzt 1980–1983), vorgeblich um die immer wieder auftauchenden politischen Krisen zu beenden. 1997 führte eine gewaltfreie Intervention des Militärs (man bediente sich dieses Mal des Nationalen Sicherheitsrates) zum Rücktritt der Regierung Necmettin Erbakan und zum Verbot dessen Wohlfahrtspartei (RP) 1998.

Aktuelle Situation

Heute ist die Türkei eine parlamentarische Demokratie. Die Gesetzgebung liegt bei der Großen Nationalversammlung der Türkei.

Die Türkei begann im Oktober 2005 offizielle Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Ein Hindernis für den Beitritt ist die umstrittene Menschenrechtssituation. Um diese zu verbessern, wurden mehrere Gesetzes- (u. a. im Strafrecht) und Verfassungsänderungen vorgenommen.

Dem Demokratieindex der Zeitschrift The Economist zufolge ist die Türkei keine demokratische Nation, sondern ein Land mit einem hybriden System gleichauf mit Nicaragua.[2] [3]

Organe

Verfassung

Die derzeit gültige Verfassung der Türkei wurde am 7. November 1982 verabschiedet. Demnach definiert sich die Türkei als „demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat“, der dem „Wohl der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und Gerechtigkeit, den Menschenrechten und dem Nationalismus Atatürks“ verbunden ist. In Artikel 5 werden die „Grundziele und -aufgaben des Staates“ definiert:

„Die Grundziele und -aufgaben des Staates sind es, die Unabhängigkeit und Einheit des Türkischen Volkes, die Unteilbarkeit des Landes, die Republik und die Demokratie zu schützen, Wohlstand, Wohlergehen und Glück der Bürger und der Gemeinschaft zu gewährleisten, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse zu beseitigen, welche die Grundrechte und -freiheiten der Person in einer mit den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates und der Gerechtigkeit nicht vereinbaren Weise beschränken, sowie sich um die Schaffung der für die Entwicklung der materiellen und ideellen Existenz des Menschen notwendigen Bedingungen zu bemühen.“

Staatspräsident

Der Staatspräsident ist das Staatsoberhaupt der Türkei und fungiert als „Hüter der Verfassung“, der die „Anwendung der Verfassung und die ordentliche und harmonische Tätigkeit der Staatsorgane“ beaufsichtigen soll, Art. 104 Abs. 1 S. 2 2. Halbs. der Verfassung. Seit der Verfassungsänderung von 2007 wird er vom Volk auf fünf Jahre gewählt, eine Wiederwahl ist einmal möglich. Weitere Einzelheiten sind im Präsidentenwahlgesetz (PräsWahlG[4]) geregelt. Das PräsWahlG wurde am 19. Januar 2012 verabschiedet und trat am 26. Januar 2012 in Kraft. Persönliche Voraussetzungen sind ein Mindestalter von 40 Jahren und ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Die Kandidaten müssen nicht dem Parlament entstammen, jedoch von mindestens zwanzig Mitgliedern der Nationalversammlung unterstützt werden. Nach Art. 102 Abs. 1 der Verfassung, Art. 3 Abs. 2 PräsWahlG findet die Wahl zum Präsidenten der Republik in der Regel innerhalb von sechzig Tagen vor Ablauf der Amtszeit des Amtsinhabers statt.

Artikel 104 der türkischen Verfassung regelt die Kompetenzen des Staatsoberhauptes:

  • Er ernennt den Ministerpräsidenten und auf dessen Vorschlag auch die Minister.
  • Er ernennt drei von elf Richtern des Verfassungsgerichts allein; die übrigen wählt er aus je drei Kandidaten aus, die von den obersten Gerichtshöfen und dem Hochschulrat (YÖK) gestellt werden.
  • Er ist Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates.
  • Im Namen der Nationalversammlung vertritt er den Oberbefehl über die Armee und ernennt auf Vorschlag des Ministerrates den Generalstabschef (Artikel 117).
  • Er entscheidet über den Auslandseinsatz der Armee, was jedoch einen Beschluss des Parlaments voraussetzt.
  • Bei der Gesetzgebung hat er ein materielles Prüfungsrecht.
  • Er kann die Nationalversammlung auflösen, wenn der Ministerrat von ihm nicht das Vertrauen erhält oder er ihm das Vertrauen entzieht und kein neuer Ministerrat in 45 Tagen gebildet werden kann.
  • Er kann, wenn er es für erforderlich hält, sogar den Vorsitz des Ministerrates übernehmen; dies ermächtigt ihn jedoch nicht, die Tagesordnung festzulegen und die politische Initiative zu ergreifen.

Darüber hinaus besitzt der Präsident ein suspensives Vetorecht. Er kann Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen und auch zurückzuweisen. Von diesem Recht haben die seit 1983 amtierenden türkischen Staatsoberhäupter immer wieder gelegentlich Gebrauch gemacht, was deren Position deutlich gestärkt hat. Allerdings ist es dem Parlament verfassungsgemäß trotzdem möglich, den entsprechenden Gesetzestext unverändert und endgültig durchzubringen. In diesem Fall kann der Staatspräsident aber innerhalb von sechzig Tagen eine Anfechtungsklage beim Verfassungsgericht einreichen.

Ministerrat

Die Regierung der Türkei wird vom Ministerrat (Bakanlar Kurulu) gebildet. Der Ministerrat besteht aus dem Ministerpräsidenten, den Ressortministern und den Staatsministern (Devlet Bakanı). Die aktuelle Regierung der Türkei stellt das Kabinett Davutoğlu III seit November 2015.

Wird der Regierung durch das Parlament das Vertrauen entzogen, muss der Ministerrat zurücktreten. Der Staatspräsident muss dann einen anderen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen.

Da die türkische Verfassung keine Richtlinienkompetenz für den Ministerpräsidenten kennt, steht der Ministerrat in der gemeinsamen Verantwortung gegenüber dem Parlament. Eine Besonderheit des türkischen Verfassungsrechts liegt in der Form der Übergangsregierung (Vorläufiger Ministerrat). So müssen die Minister für Inneres, Justiz und Verkehr vor allgemeinen Wahlen zurücktreten. Deren Posten werden dann vom Ministerpräsidenten an parteilose Politiker vergeben. Diese Übergangsregierung bleibt dann solange im Amt, bis das neugewählte Parlament zusammentritt. Mit dieser Vorschrift soll ein unparteiischer Verlauf der Parlamentswahlen gewährleistet werden.

Ministerpräsident

Der Ministerpräsident wird vom Staatsoberhaupt bestimmt. Die Parteien stellen hierzu Kandidaten. Der Präsident benennt denjenigen, von dem er annimmt, dass er die notwendige Parlamentsmehrheit erhält. Der Ministerpräsident muss die Ministerliste und das Regierungsprogramm in einer Vertrauensabstimmung dem Parlament vorlegen. Wird das Vertrauen ausgesprochen, werden die Minister förmlich vom Staatspräsidenten ernannt. Der Ministerpräsident steht dem Ministerpräsidialamt vor.

Große Nationalversammlung der Türkei

Das türkische Parlament ist die Große Nationalversammlung der Türkei (Türkiye Büyük Millet Meclisi). Nach Art. 75 der Verfassung besteht sie seit 1995 aus 550 Abgeordneten. Sie wird für 4 Jahre mit einer Sperrklausel von 10 Prozent gewählt. Das Parlament kann vor Ablauf der vierjährigen Legislaturperiode Neuwahlen beschließen. Die Wahlen (1991, 1995, 1999, 2002, 2007 und 2015) fanden vorzeitig statt.

Die Nationalversammlung trifft die Grundsatzentscheidungen, die den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Alltag des Staatslebens steuern. Ihre Aufgaben sind:

  • Gesetze zu verabschieden
  • die Verfassung zu ändern
  • den Staatshaushalt zu verabschieden
  • den Ministerrat zum Erlass von Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft zu ermächtigen
  • völkerrechtliche Verträge zu ratifizieren (Artikel 90)
  • in bestimmten Fällen die Ausrufung des Kriegsfalles zu erlauben (Artikel 92)

Darüber hinaus enthält die türkische Verfassung ausführliche Regelungen über die Unvereinbarkeit zwischen bestimmten Ämtern in der Regierung und der Justiz sowie dem Abgeordnetenmandat. Die Abgeordneten genießen Immunität und Indemnität (Artikel 83).

Nach Artikel 80 repräsentiert das Parlament mit seinen Mitgliedern, die ein freies Mandat ausüben, die gesamte Nation. Parteipolitik wird über die Fraktionen in das Parlament hineingetragen. Eine Fraktion muss mindestens 20 Mitglieder haben. Der Fraktionsvorsitz wird vom Parteivorsitzenden ausgeübt, wenn er der Nationalversammlung angehört.

Die Nationalversammlung ist auch Herrin des Gesetzgebungsverfahrens. Die Gesetzesinitiativen werden von Abgeordneten oder vom Ministerrat eingebracht (Artikel 88) und müssen begründet werden. Der Staatspräsident hat ein Prüfungsrecht: Er überprüft das Gesetz im Hinblick auf das Verfahren und auf seine materielle Verfassungsmäßigkeit.

Aktuelle Zusammensetzung

Siehe: Große Nationalversammlung der Türkei

Nationaler Sicherheitsrat und Militär

Die Wurzeln des Nationalen Sicherheitsrates (milli güvenlik kurulu) reichen bis in die 1940er Jahre zurück. Seit 1961 ist er auch in der Verfassung verankert. Der Nationale Sicherheitsrat fungiert als beratendes Organ in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit. Der Rat tritt besonders dann in Aktion, wenn die Grundsätze der Türkischen Republik gefährdet scheinen – insbesondere bei der von Republikgründer Kemal Atatürk eingeführten strikten Trennung zwischen Staat und Religion (Laizismus). Die Mitglieder des Rates sind gemäß Art. 118 der türkischen Verfassung die Oberbefehlshaber von Heer, Marine, Luftwaffe und Gendarmerie, der Generalstabschef, der Ministerpräsident, seine Stellvertreter, der Außen-, der Innen-, und der Verteidigungsminister sowie als Vorsitzender des Rates der Staatspräsident.

Der Nationale Sicherheitsrat berät alle zwei Monate über die Innen- und Außenpolitik.

Das Militär sieht seine Aufgabe nicht nur im Schutz der äußeren, sondern auch der inneren Sicherheit und sieht sich beispielsweise als „Hüterin des Kemalismus“.

Die Rolle des Nationalen Sicherheitsrats wurde jedoch durch die Reformen seit 2001 beschränkt:

  • Der Nationale Sicherheitsrat trifft sich nunmehr alle zwei Monate (statt einmal pro Monat)
  • Das Verhältnis von Zivilisten zu Militärs im Rat beträgt jetzt 7:5
  • Er gibt nur noch Empfehlungen ab
  • Nicht-Militärs können den Generalsekretär stellen

Regionalverwaltung

Die Türkei wird, vor allem auf Grund des in der Verfassung festgeschriebenen „Nationalen Einheitsstaates“, zentralistisch verwaltet. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden drei Verwaltungsebenen, innerhalb derer auch eingeschränkt eigene Entscheidungen getroffen werden können. Es gibt 81 Provinzen (İl), deren höchster Repräsentant ein Vali (Gouverneur/Präfekt) ist. Dieser wird vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Er ist auch Vorsitzender der gewählten Provinzversammlung. Die Landkreise (İlçe) werden von einem Kaymakam geleitet, der vom Innenminister ernannt wird. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk gewählt. Die Autonomie der unteren Verwaltungsebenen wird unter anderem durch das Fehlen eigener Geldquellen eingeschränkt.

Als Mitglied des Europarates ist die Türkei verpflichtet, die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung umzusetzen. Dazu hielt das Monitoring Committee des Europarates im Jahr 2011 allerdings fest, dass weiterhin elementare Umsetzungsdefizite bestünden, insbesondere administrative Bevormundung und das Verbot der Verwendung anderer lokaler Sprachen als der türkischen, und mahnte ernsthafte Umsetzungsbemühungen an.[5]

Rechtssystem und Verfassungsgericht

Die Türkei hat in vielen Bereichen europäisches Recht übernommen; so basiert das Zivilrecht auf den Regelungen der Schweiz. Vorbild für das türkische Strafgesetzbuch war ursprünglich das italienische Pendant. Seit den Reformen im Jahr 2005 basiert das türkische Strafrecht überwiegend auf deutschem Recht, wobei Einflüsse aus Frankreich, Italien, Polen, Russland sowie den Vereinigten Staaten von Amerika zu den Bedeutendsten zählen. Bei den Reformen flossen auch internationale Abkommen, wie etwa das Rom-Statut, mit ein.

Seit der Verfassung von 1961 gibt es ein Verfassungsgericht mit einem Senat. Die Richter werden auf Lebenszeit gewählt und sind nicht auf eine Wiederwahl angewiesen. Das Verfassungsgericht hat drei Hauptaufgaben:

  1. Die Überprüfung von Gesetzen und Verordnungen mit Gesetzeskraft (Art. 150 und 152)
  2. Die Funktion als Staatsgerichtshof (Yüce Divan) nach Art. 148 der Verfassung
  3. Das Verbot von politischen Parteien (Art. 148)

Eine Verfassungsbeschwerde, die in Deutschland über 90 Prozent der Arbeit des Verfassungsgerichts ausmacht, ist nach türkischem Recht nicht vorgesehen. Aus diesem Grunde hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für Türken eine große Bedeutung.

Parteien

Den Anfang der türkischen Parteien bildete die Republikanische Volkspartei (CHP) von Kemal Atatürk. Ab 1946 gab es ein Mehrparteiensystem. Im türkischen Parteiensystem gab und gibt es viele Veränderungen, beispielsweise durch Verbote von Parteien durch das Verfassungsgericht; es handelt sich vor allem um islamistische Parteien. Richter, Soldaten, Schüler, Staatsanwälte und die meisten übrigen Beamten dürfen Parteien nicht beitreten. Die Parteien müssen Laizismus und Nationalismus achten, sowie ein Parteiprogramm haben, das einer freiheitlich demokratischen Ordnung entspricht.

Die wichtigsten Parteien mit mehr als 1 % Stimmen bei der Parlamentswahl 2007, in der Reihenfolge des Ergebnisses:

Name und Gründungsjahr Übersetzung und Sonstiges politische Richtung und wichtige Mitglieder
Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, 2001) Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (derzeitige Regierungspartei) islamisch-konservativ, wirtschaftsliberal, Binali Yıldırım (amtierender Ministerpräsident, Vorsitzender)
Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, 1923) Republikanische Volkspartei (Partei von Atatürk, bis 1946 Staatspartei) kemalistisch, sozialdemokratisch, säkular; Kemal Kılıçdaroğlu
Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, 1948) Partei der Nationalistischen Bewegung nationalistische, rechtsextreme Partei; Devlet Bahçeli
Demokrat Parti (DP, 2007) Demokratische Partei säkular-konservativ, Nachfolgepartei der 1983 gegründeten Partei des Rechten Weges (DYP)
Genç Parti (GP, 2002) Junge Partei nationalistisch
Saadet Partisi (SP) Partei der Glückseligkeit islamistisch

Weitere Parteien, mit aktuell geringerer Bedeutung (weniger als 1 % der Stimmen bei der Parlamentswahl 2007 oder nicht angetreten):

Name und Gründungsjahr Übersetzung und Sonstiges politische Richtung und wichtige Mitglieder
Anavatan Partisi (ANAP, 1983; aufgelöst) Mutterlandspartei rechtsliberal; schloss sich im Herbst 2010 mit der DYP zur DP zusammen
Bağımsız Türkiye Partisi (BTP) Partei der unabhängigen Türkei islamisch-nationalistisch
Demokratik Sol Parti (DSP) Demokratische Linkspartei sozialdemokratisch, demokratisch-sozialistisch; Zeki Sezer
Özgürlük ve Dayanışma Partisi (ÖDP) Partei der Freiheit und Solidarität sozialistisch, kommunistisch

Verbotene Parteien

Seit der Gründung der Republik Türkei wurden insgesamt 29 Parteien verboten. Die Terakkiperver Cumhuriyet Fırkası wurde am 5. Juni 1925 aufgelöst und war somit die erste verbotene Partei. Das letzte Parteiverbot gab es am 11. Dezember 2009, damals wurde die Demokratik Toplum Partisi verboten (Partei der demokratischen Gesellschaft).

Am 14. März 2008 wurde vom Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalçınkaya ein Verbotsverfahren gegen die AKP beantragt. Begründet wurde das Verfahren damit, die AKP sei ein „Zentrum anti-laizistischer Aktivitäten“ geworden. Das Verfahren wurde vor dem Verfassungsgericht der Türkei geführt.[6] Der Generalstaatsanwalt forderte für 71 Personen ein Politikverbot, darunter waren der türkische Präsident Abdullah Gül, der türkische Ministerpräsident und Vorsitzende der AKP Recep Tayyip Erdoğan und der ehemalige Parlamentspräsident Bülent Arınç.[7][8]

Der stellvertretende Sprecher der deutschen Bundesregierung Thomas Steg erklärte am 17. März 2008, die AKP sei eine, aus freien, fairen und demokratischen Parlamentswahlen 2007 eindeutig als stärkste Partei hervorgegangene, eindeutig demokratische Partei. Das Vorgehen des Generalstaatsanwaltes richte sich damit auch gegen den Willen des türkischen Volkes. Die Bundesregierung habe Vertrauen in die demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien in der Türkei und gehe davon aus, dass das türkische Verfassungsgericht dem unverständlichen Antrag nicht nachkomme.[9]

Am 30. Juli 2008 wurde der Verbotsantrag abgelehnt. Sechs der elf Richter stimmten für ein Verbot, womit die notwendige Anzahl von sieben Stimmen knapp verfehlt wurde. Vier weitere Richter stimmten für eine Verwarnung wegen „antilaizistischer Umtriebe“. In einem zweiten Wahlgang stimmten 10 Richter für eine Verwarnung der AKP, da sie „das Zentrum für antilaizistische Umtriebe in der Türkei“ sei, nur ein Richter stimmte dagegen. Somit darf die Partei weiter regieren, wobei jedoch gemäß Art. 69 der Verfassung staatliche Unterstützungen für die AKP teilweise versagt werden.[10]

Wahlsystem und Wahlen

Das Wahlsystem in der Türkei ist eine Kombination aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht. Wie in vielen europäischen Ländern existiert auch im türkischen Wahlrecht eine Sperrklausel: erhält eine Partei landesweit weniger als zehn Prozent der abgegebenen Stimmen, werden diese Stimmen auf nationaler Ebene nicht berücksichtigt. Davon betroffen sind vor allem die Parteien, welche die kurdische Minderheit im Osten und Südosten der Türkei ansprechen. Somit können auch keine Direktkandidaten gewählt werden, deren Partei unterhalb der Sperrklausel abschneidet. Ausgenommen sind jedoch unabhängige Kandidaten, die ohne Rückhalt einer Partei oder einer Liste antreten.

Von den 550 Parlamentsmandaten wird jeweils eines an jede der 81 türkischen Provinzen vergeben. Der Kandidat mit den meisten Stimmen wird für seine Provinz direkt ins Parlament gewählt, vorausgesetzt, seine Partei überspringt die 10-Prozent-Hürde. Die restlichen Mandate werden je nach Einwohnerzahl der Provinzen verteilt.

Für ausscheidende Abgeordnete gibt es kein Nachrückverfahren. Sind mehr als fünf Prozent – derzeit 28 – der Abgeordneten ausgeschieden, werden deren Mandate durch Nachwahlen neu vergeben. Diese Nachwahlen finden mindestens 30 Monate nach, und spätestens ein Jahr vor den allgemeinen Wahlen statt.

Wahlberechtigt sind grundsätzlich alle Bürger ab 18 Jahren, die ihre Stimme in allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen abgeben können. Nicht stimmberechtigt sind jedoch:

  • Soldaten und Garnisonsoffiziere
  • Schüler einer Militärschule
  • Strafgefangene, die wegen vorsätzlich begangener Straftaten verurteilt wurden
  • beschränkt Geschäftsfähige
  • Personen, die vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden

Eine Stimmabgabe an türkischen Grenzübergängen ist möglich. Seit dem 22. März 2008 können auch im Ausland lebende türkische Staatsbürger wählen. Dabei können diese ihre Stimme bei Wahlen zum Parlament, Wahlen zum Präsidenten und bei Volksabstimmungen abgeben. Bei Parlamentswahlen können Auslandstürken nur Parteien wählen, nicht jedoch unabhängige Kandidaten. Die Wähler können dabei ihre Stimme entweder per Briefwahl, per Urnengang in einer türkischen Botschaft bzw. in einem türkischen Konsulat oder per Internet (unter Angabe der „Staatsbürgernummer“) abgeben.[11]

Wer sich ins Parlament wählen lassen möchte, muss mindestens 25 Jahre alt sein, einen Grundschulabschluss besitzen und – als Mann – den Wehrdienst abgeleistet haben. Gemäß Wahlgesetz finden Parlamentswahlen alle fünf Jahre am zweiten Sonntag im Oktober statt (ausgenommen sind außerordentliche Neuwahlen). Der Wahlkampf darf erst zehn Tage vor dem Wahltermin beginnen. Zudem besteht Wahlpflicht, wodurch die Wahlbeteiligung in der Regel sehr hoch ist. Wer nicht wählt, muss eine Strafe von umgerechnet etwa 13 Euro zahlen.

Fußnoten

  1. Verfassungsgesetz der Republik Türkei vom 20. April 1924 (Volltext)
  2. Nachrichtenportal der zur Hürriyet gehörenden Daily News: Hybrid Turkey, (englisch)
  3. Friedrich-Ebert-Stiftung Türkei Information Nr. 19 vom Dezember 2010: Demokratiedefizite (PDF; 127 kB)
  4. Gesetz über die Wahl des Präsidenten der Republik (Cumhurbaşkanı Seçimi Kanunu); Gesetz Nr. 6271 vom 19. Januar 2012, Amtsblatt Nr. 28185 vom 26. Januar 2012 (online).
  5. Local and regional democracy in Turkey. Council of Europe, Congress of Local and Regional Authorities, Monitoring Committee, 1. März 2011, abgerufen am 16. Mai 2016.
  6. Generalstaatsanwalt will Regierungspartei verbieten, Der Spiegel, abgerufen am 14. März 2008
  7. AK Parti’ye kapatılma davası (türkisch), CNNTÜRK, abgerufen am 14. März 2008
  8. Gericht prüft Verbot von Erdogans Partei AKP, Die Welt, abgerufen am 14. März 2008
  9. Justizstreit um AKP: Türkischer Staatsanwalt will Regierung verbieten lassen, Zeit online, abgerufen am 17. März 2008
  10. Islamisierung: Türkisches Verfassungsgericht lehnt Verbot der Regierungspartei ab. In: Spiegel Online, 30. Juli 2008
  11. Seçimlerin Temel Hükümleri ve Seçmen Kütükleri Hakkında Kanunda Değişiklik Yapılmasına Dair Kanun (Gesetz Nummer 5749 über die Änderung der Grundbestimmungen der Wahlen und der Wahlregister vom 13. März 2008) (türkisch), Große Nationalversammlung der Türkei, abgerufen am 8. Mai 2008

Literatur

  • Gazi Çağlar: Die Türkei zwischen Orient und Okzident: eine politische Analyse ihrer Geschichte und Gegenwart. Unrast, Münster 2004, ISBN 3-89771-016-1.
  • Brigitte Moser / Michael Weithmann: Landeskunde Türkei. Geschichte, Gesellschaft Kultur. Hamburg 2008. ISBN 978-3-87548-491-5
  • Yunus Yoldaş: Das politische System der Türkei. (Europäische Hochschulschriften: Reihe 31, Politikwissenschaft; 557), Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2008, ISBN 978-3-631-57683-0.

Weblinks