Michail Sergejewitsch Gorbatschow

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Michail Gorbatschow auf der Unesco Charity Gala 2011
Gorbatschows Unterschrift
Gorbatschows Unterschrift

Michail Sergejewitsch Gorbatschow (russisch Михаил Сергеевич Горбачёв anhören/?, wiss. Transliteration Michail Sergeevič Gorbačёv; * 2. März 1931 in Priwolnoje, UdSSR) ist ein russischer Politiker. Er war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion. Durch seine Politik der Glasnost (Offenheit) und der Perestroika (Umbau) leitete er das Ende des Kalten Krieges ein. Er erhielt 1990 den Friedensnobelpreis.

Leben

Kindheit und Jugend

Michail Sergejewitsch Gorbatschow kam am 2. März 1931 als Sohn eines russischen Vaters, Sergei Andrejewitsch Gorbatschow (1909–1976), und einer ukrainischen Mutter, Marija Pantelejewna Gopkalo (1911–1993), in der Region Nordkaukasus (heute Region Stawropol) zur Welt. Gorbatschows Eltern waren Bauern in einem Kolchos in der Ortschaft Priwolnoje.[1] Gorbatschows Großvater mütterlicherseits, Pantelei Jefimowitsch Gopkalo, war 17 Jahre Leiter dieser Kolchose, wurde aber 1937 wegen Trotzkismus-Verdachts verhaftet.[2] An diesem Ort wuchs Michail Gorbatschow heran, wobei er viel Zeit bei seinen Großeltern mütterlicherseits verbrachte, die in ihre Enkelkinder vernarrt waren.[3] Erste Berufserfahrungen sammelte er als Mähdrescher­mechaniker. Für den Wehrdienst war er untauglich. Gorbatschow studierte Jura an der Lomonossow-Universität in Moskau und lernte dort seine spätere Frau Raissa († 1999) kennen. Sie heirateten im September 1953 und zogen gemeinsam zurück in seine Heimatregion Stawropol im nördlichen, russischen Kaukasus, nachdem Gorbatschow 1955 sein Studium der Rechtswissenschaft beendet hatte.[4]

Parteikarriere

Gorbatschow im Gespräch mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan (1985)

Bereits 1952 trat er im Alter von 21 Jahren in die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) ein und agierte von da an 22 Jahre lang als Apparatschik im heimatlichen Stawropol. 1966, im Alter von 35 Jahren, machte er seinen Abschluss als Agrarbetriebswirt am Landwirtschaftlichen Institut. Mit seiner Parteikarriere ging es steil aufwärts, 1970 wurde er zum Ersten Sekretär für Landwirtschaft berufen. Im folgenden Jahr wurde er Mitglied des Zentralkomitees. 1972 führte er eine sowjetische Delegation nach Belgien, und zwei Jahre später, 1974, wurde er Repräsentant des Obersten Sowjets und Vorsitzender der Ständigen Kommission für Jugendpolitik (russ. Комиссия по делам молодёжи Совета Союза Верховного Совета). Mitglied der Kreml-Führung wurde er nach dem überraschenden Tod seines Förderers F. Kulakow 1978. Gorbatschow wurde dessen Nachfolger als ZK-Sekretär für die Landwirtschaft. Zusätzlich wurde er 1979 Kandidat des Politbüros. Ein weiteres Jahr später nahm ihn das Politbüro im Oktober 1980 als Vollmitglied auf. Während seiner Tätigkeit im Politbüro lernte er Juri Andropow, den Chef des KGB, kennen, der ebenfalls aus Stawropol stammte und Gorbatschow in den kommenden Jahren in seiner Karriere im Parteiapparat unterstützte.

Aufgrund seiner Position in der Partei wurde ihm erlaubt, auch das westliche Ausland zu bereisen, was seine politischen und sozialen Ansichten stark beeinflusste. 1975 besuchte er mit einer Delegation die Bundesrepublik Deutschland, 1983 führte er eine sowjetische Kommission nach Kanada, um sich mit Pierre Trudeau, dem damaligen Premierminister, und Mitgliedern des kanadischen Parlaments zu treffen. 1984 reiste er nach Großbritannien und sprach mit Premierministerin Margaret Thatcher. Diese war die erste Politikerin im Westen, die den neuartigen Politikstil Gorbatschows erkannte und ihn insbesondere dem misstrauischen US-Präsidenten Ronald Reagan empfahl: „I like Mr. Gorbachev. We can do business together“ (deutsch: „Ich mag Herrn Gorbatschow. Mit ihm können wir arbeiten“; 17. Dezember 1984 in einem Interview der BBC).[5]

Generalsekretär der KPdSU

Michail Gorbatschow und Erich Honecker auf dem XI. Parteitag der SED im April 1986
Sowjetische Führer der Bolschewiki (1922–1952)
und der KPdSU (1952–1991)
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1920 —
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1925 —
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1930 —
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1935 —
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1940 —
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1945 —
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1950 —
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1955 —
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1960 —
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1965 —
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1970 —
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1975 —
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1980 —
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1985 —
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1990 —
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1995 —
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Nach Leonid Iljitsch Breschnew und dem nur kurzzeitig amtierenden Juri Wladimirowitsch Andropow lenkte mit Konstantin Ustinowitsch Tschernenko erneut ein schwer kranker, alter Mann die Geschicke der Sowjetunion. Als mögliche Nachfolger waren Vertreter einer neuen Generation im Gespräch, der „Hardliner“ Grigori Romanow aus Leningrad sowie der „Reformer“ Gorbatschow.

Am 11. März 1985, dem Tag nach dem Tod des damaligen Generalsekretärs der KPdSU, Konstantin Tschernenko, wurde Gorbatschow mit 54 Jahren zum zweitjüngsten Generalsekretär in der Geschichte der Kommunistischen Partei gewählt. Bereits zu Beginn seiner Amtszeit startete er mit dem Vernichten von Weinstöcken und Obstbäumen die größte Anti-Alkohol-Kampagne, die es jemals in der UdSSR gab. Als De-facto-Herrscher der Sowjetunion führte er die Konzepte Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umstrukturierung) in die politische Arbeit ein. Dieser Prozess begann während des 27. Parteitages der KPdSU im Februar 1986.

Gorbatschow bekannte sich zu den politischen Fehlern der Partei seit Stalins Zeiten und den Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges. Unter seiner Verantwortung wurde u. a. die Existenz des zuvor hartnäckig geleugneten geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion von 1939 zugegeben, ebenso wie das daran anschließende Massaker von Katyn sowjetischer Truppen gegen die polnische Führungsschicht 1940. Weiterhin sorgte er für den Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan.

Michail Gorbatschow (1986)

Am 19. Dezember 1986 wurde der Regimekritiker Andrei Sacharow (1921–1989) von der sowjetischen Regierung rehabilitiert und durfte aus der Verbannung nach Moskau zurückkehren. 1987 kam es zu einer Rehabilitierung von Nikolai Bucharin (1888–1938) und weiterer Oppositioneller aus der Zeit der Stalinschen Säuberungen.

1988 wurde Gorbatschow Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets und löste damit Andrei Gromyko als Staatspräsident ab. Am 7. Dezember 1988 hielt Gorbatschow eine Rede vor der 43. UN-Generalversammlung in New York, bei der er einseitige Abrüstungsschritte in Aussicht stellte.

Im selben Jahr distanzierte sich Gorbatschow von der Breschnew-Doktrin (seine Position wird als Sinatra-Doktrin bekannt) und ermöglichte damit, dass die Länder des Warschauer Pakts ihre Staatsform fortan selbst bestimmen konnten. Die neue Freiheit führte 1989 zu einer Reihe überwiegend friedlicher Revolutionen in Osteuropa. Dies beendete den Kalten Krieg und ermöglichte die deutsche Wiedervereinigung, an der Gorbatschow zusammen mit Helmut Kohl, George H. W. Bush und François Mitterrand maßgeblich beteiligt war. Gorbatschow erhielt dafür 1990 den Friedensnobelpreis.[6]

Präsident der Sowjetunion

Am 14. März 1990 wurde Gorbatschow auf einem Sonderkongress der Volksdeputierten der UdSSR mit 59,2 % der Stimmen zum Staatspräsidenten der UdSSR gewählt. Während der traditionellen Maiparade 1990 wurden er und die sowjetische Staatsführung vor dem Kreml ausgepfiffen. Die Demokratisierung der UdSSR und Osteuropas führte zu einer massiven Machtverminderung der Kommunistischen Partei und letztendlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks.

Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung der baltischen Staaten kam es zu militärischer Gewalt, die im Vilniusser Blutsonntag im Januar 1991 gipfelte. Die Verantwortung dazu wird Gorbatschow zugeschrieben, er selber streitet das jedoch ab.[7] Im August desselben Jahres unternahmen einige orthodoxe kommunistische Politiker zusammen mit einem Teil des Militärs, das Staatskomitee für den Ausnahmezustand, einen Putschversuch in Moskau, während Gorbatschow, seine Frau Raissa und die Leibwache drei Tage unter Hausarrest in einer Datscha im Krimgebiet standen. Dem damals neugewählten Präsidenten der Russischen SFSR, Boris Jelzin, gelang es, die Putschisten auszuschalten und die Staatsgewalt zu übernehmen. Damit war die Sowjetmacht in die Hände der russischen Unionsrepublik übergegangen, was einen Tag nach der Niederschlagung des Putsches die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine zur Folge hatte. Während Gorbatschow diese zunächst ignorierte, erkannte er – nach dem Scheitern des Augustputsches de facto durch Jelzin entmachtet – noch im gleichen Monat die Unabhängigkeit der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen an.

Obwohl die Ukraine ihre Unabhängigkeit bis zu einem Referendum aussetzte, erklärten bis auf Russland nach und nach auch die anderen Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit. Insbesondere in den zentralasiatischen Republiken geschah dies jedoch hauptsächlich, um – erfolgreich – der lokalen KP-Führung Macht und Pfründe zu sichern. Gorbatschows in den Folgemonaten unternommener Versuch, die Sowjetunion als eine eher lose Konföderation zu retten, scheiterte am Widerstand der Ukraine, ohne deren Mitgliedschaft auch Russland nicht zu einer neuen Union bereit war.

Rücktritt als Präsident

Berliner Mauer am 3. Oktober 1990

Nach dem misslungenen Putsch wurden die Putschisten („Bande der Acht“) festgenommen. Jelzin erließ ein Dekret zum Verbot der Tätigkeit der KPdSU auf russischem Boden während einer weltweit übertragenen Ansprache Gorbatschows vor dem russischen Parlament und unterbrach Gorbatschows Rede zur Verkündung seines Erlasses. Gorbatschow – nicht nur sowjetischer Präsident, sondern zu diesem Zeitpunkt auch noch Generalsekretär der gerade für illegal erklärten KPdSU – wirkte völlig überrumpelt. Diese demütigende Machtdemonstration Jelzins gegenüber Gorbatschow beschleunigte den Abspaltungsprozess der übrigen Republiken, da sich die Entmachtung des Zentralstaates zu Gunsten der Teilrepubliken vor aller Welt eindrucksvoll manifestierte. Es ist fraglich, ob sich Jelzin der vollen Tragweite seiner Handlung bewusst war.

Am 25. Dezember 1991 trat Gorbatschow als Präsident der Sowjetunion zurück.

Nachsowjetisches Politikengagement

1992 gründete Gorbatschow die Gorbatschow-Stiftung, 1993 die Umweltschutzorganisation Internationales Grünes Kreuz. Er wurde Mitglied im Club of Rome. Vor allem seit Anfang des 21. Jahrhunderts kritisierte Gorbatschow die weltweite Machtpolitik der Regierung um George W. Bush.

Innenpolitisch versteht er sich als Sozialdemokrat und ist als Vorsitzender von mehreren russischen Parteien dieser Orientierung tätig gewesen. Er kritisiert in Russland den ungezügelten Kapitalismus und sieht heute die Perestroika als sozialdemokratisches Programm, das jedoch durch die radikalen Marktreformen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht zu Ende geführt wurde.[8]

Als er 1996 zu den russischen Präsidentschaftswahlen kandidierte, erhielt er 0,51 % der Stimmen. Gorbatschow sieht hierin das Ergebnis von Wahlfälschung:

„Woher wisst ihr, wie viel Stimmen ich wirklich bekommen habe? Einer der Jelzin-Vertrauten hat öffentlich erklärt: Nach seinen Angaben hätte ich 25 Prozent erhalten. Faktisch bekam ich 15. Am Morgen nach der Wahl rief mich einer meiner Bevollmächtigten aus Orenburg an und sagte, ich läge bei knapp 7. Am Abend desselben Tages waren es dann 0,65 Prozent. Wie sagte schon Stalin? Das Wichtigste ist, wie man zusammenzählt.“[9]

In einer Rede vor dem Deutsch-Russischen Forum im Mai 2007 kritisierte Gorbatschow die Politik Jelzins, die vieles in Russland „zerschlagen“ habe – was dann durch Wladimir Putin wieder aufgebaut worden sei.[10] Kritisch äußerte er sich Anfang 2008 über Stereotype und Klischees in der aktuellen Berichterstattung deutscher Massenmedien aus Russland. Er fordert von den örtlichen Korrespondenten ein tieferes Verständnis für die Zusammenhänge und Probleme des Landes und eine größere Themenvielfalt in der Berichterstattung, die er aktuell vermisst.[11]

Am 8. Oktober 2008 gab Gorbatschow die Gründung der Unabhängigen Demokratischen Partei Russlands gemeinsam mit Alexander Lebedew bekannt, der jedoch wenig Chancen bei Wahlen eingeräumt werden.

Gorbatschow engagiert sich außerdem für die globale Menschenrechtsbewegung. So war er Mitglied einer Jury von renommierten Persönlichkeiten, die im Jahr 2011 bei der Auswahl des universellen Logos für Menschenrechte beteiligt war.

Im August 2011 kritisierte Gorbatschow gegenüber dem SPIEGEL Demokratiedefizite unter der Herrschaft Putins, der damals das Amt des russischen Ministerpräsidenten bekleidete und eine dritte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation anstrebte:

„Putin will an der Macht bleiben. Aber nicht, um endlich unsere dringendsten Probleme zu lösen – Bildung, Medizin, Armut. Das Volk wird nicht gefragt, die Parteien sind Marionetten des Regimes. Gouverneure werden nicht mehr direkt gewählt, Direktmandate bei den Wahlen wurden abgeschafft, alles läuft nur noch über Parteilisten. Neue Parteien werden aber nicht zugelassen, sie stören.“[9]

Die Rolle der Regierungspartei Einiges Russland erinnerte ihn „mitunter an die alte KPdSU“:

„Mich beunruhigt, was die Partei 'Einiges Russland', deren Führer Putin ist, und die Regierung tun: Sie wollen den Status quo wahren, es geht keinen Schritt vorwärts. Im Gegenteil: Sie zerren uns zurück in die Vergangenheit, während das Land dringend modernisiert werden muss. 'Einiges Russland' erinnert mitunter an die alte KPdSU.“[9]

Ende Dezember 2011 kam es in einem Interview zwischen Gorbatschow und dem Radiosender Echo Moskwy erneut zu kritischen Äußerungen über Putin:

„Zwei Amtszeiten als Präsident, eine Amtszeit als Regierungschef – das sind im Grunde drei Amtszeiten, das reicht nun wirklich.“[12]

Mit Blick auf die Massenproteste gegen die von Fälschungsvorwürfen überschattete Parlamentswahl am 4. Dezember 2011 meinte Gorbatschow:

„Ich würde Wladimir Wladimirowitsch raten, sofort zu gehen.“[12]

Putins Pressesprecher Dmitri Peskow kommentierte Gorbatschows Rücktrittsforderung mit den Worten:

„Ein ehemaliges Staatsoberhaupt, das seinem Land im Grunde den Zerfall brachte, gibt einem Menschen Ratschläge, der Russland vor einem ähnlichen Schicksal bewahren konnte.“[13]

Gorbatschows öffentliche Bewertung von Putins Politik änderte sich 2014. Während seines Besuches in Berlin im November 2014 wollte er die aktuelle russische Politik auch gegenüber der Ukraine nicht kritisieren, obwohl er weiterhin Kritikpunkte sieht:

„Ich werde Russland und seinen Präsidenten Wladimir Putin entschlossen verteidigen. Ich bin absolut überzeugt, dass Putin heute besser als jeder andere die Interessen Russlands verfolgt. Es gibt natürlich in seiner Politik etwas, das kritisierbar ist. Aber ich will dies nicht tun, und ich will auch nicht, dass jemand anderes dies tut.“

Hinsichtlich des Ukraine-Konflikts kritisierte Gorbatschow die USA; er warf ihr vor, Probleme der Ukraine als Vorwand zur Einmischung bei anderen Ländern zu nutzen.[14] Hingegen stellte er klar, dass es 1990 kein Versprechen der Nato betreffend einer Ostausdehnung gegeben hatte.[15]

Politik

Gipfeltreffen vor Malta (1989)

Geradezu atypisch für die sowjetische und russische Politik stellte Gorbatschow seine Herrschaft zumindest pro forma unter das Gesetz. Alle seine Beschlüsse ließ er überprüfen, erst durch das ZK der KPdSU, später durch das Parlament. Dies wurde ihm oft als Schwäche ausgelegt, aber diese Art von Politik gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen für einen demokratisch verfassten Rechtsstaat. Sie barg aber auch das Risiko des Scheiterns, wobei Gorbatschow die Sprengkraft der extrem föderalistischen Verfassung der Sowjetunion (Recht auf freien Austritt aus der Union für die Republiken) bei einem Wegfall der zentralistischen Macht der KPdSU offenkundig unterschätzte. Es gelang ihm nicht, hinreichend zentralistische Staatsstrukturen gegen die um ihre Pfründe fürchtenden Führungen der Teilrepubliken und die nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit strebenden baltischen Republiken als Ersatz für den Wegfall des Parteiapparates zu schaffen.

Am 2. und 3. Dezember 1989 traf Gorbatschow vor Malta auf dem sowjetischen Kreuzfahrtschiff Maxim Gorki zu einem Gipfelgespräch mit US-Präsident George H. W. Bush zusammen und betonte dabei: „Der Kalte Krieg ist zu Ende.“

Während der Wende in der DDR und anderer Auflösungserscheinungen des Ostblocks Ende 1989 (Samtene Revolution in der Tschechoslowakei, Rumänische Revolution 1989) war Gorbatschow von den dramatischen Entwicklungen in der sowjetischen Innenpolitik abgelenkt: Abspaltung nicht nur des Baltikums, sondern auch des Kaukasus, drohender Staatsbankrott und Streiks. So musste er ohne Konzept und Alternativen letztlich die Vorschläge des Westens zur Wiedervereinigung und NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands akzeptieren, obwohl dies ursprünglich nicht von ihm beabsichtigt war. Er erntete dafür jedoch von Seiten Deutschlands eine erhebliche „Friedensdividende“.[16] Seine oft kritisierte Rolle beim bewaffneten Einschreiten sowjetischer Truppen im Baltikum (insbesondere zum Vilniusser Blutsonntag) war hingegen zunächst von der Staatsraison diktiert; letztlich beugte er sich aber dem Volkswillen.

Gorbatschows Rückblick

Michail Gorbatschows Bilanz fiel 15 Jahre nach dem „großen Umbruch“ eher negativ aus: Nirgendwo im Westen habe es damals einen echten Partner für ihn gegeben; wahrscheinlich habe keiner im anderen Lager auch nur annähernd begriffen, welches Risiko er, der damals mächtigste Mann jenseits des Eisernen Vorhangs, mit dem politischen Konzept „Glasnost und Perestroika“ eingegangen sei; kein einziger Staatsmann im Westen habe verstanden, dass das von ihm angestrebte gemeinsame „Haus Europa“ auch eine tiefgreifende Erneuerung der westlichen Strukturen, Institutionen und Denkweisen erfordert hätte, um eine völlig neue einmalige Zukunftsperspektive für den ganzen Kontinent zu eröffnen. Im gesamten westlichen Staatensystem, so müsse er rückblickend feststellen, habe nur ein „Triumphalismus ohnegleichen“ und „reine Siegermentalität“ geherrscht. Das sei am Ende der Grund gewesen, warum Russland, nach dem „politischen Ausverkauf“ und der „ökonomisch-politischen Anarchie“ der Jelzin-Jahre, einen „Machtmenschen“ wie Wladimir Putin geradezu gebraucht hätte, wollte es nicht gänzlich aus der Weltpolitik verschwinden.[17]

Rezeption im In- und Ausland

Michail Gorbatschow (2010)

Im Westen wird Gorbatschow hoch geschätzt, weil er den Kalten Krieg beendete und maßgeblich am Gelingen der deutschen Einheit beteiligt war. Zudem kanalisierte er die beim Zerfall des Sowjetreiches frei werdenden Kräfte nach innen, in eine Implosion, anstatt sie in aggressiver Form nach außen dringen zu lassen, etwa in einem Krieg. In Russland ist Gorbatschows Ruf dagegen weit schlechter als im Westen, weil er nach verbreiteter Meinung den Zusammenbruch der Sowjetunion und die folgende Phase wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit verursacht hat. Zwar wurde er anlässlich seines 80. Geburtstages für Verdienste als Staatsmann mit der höchsten Auszeichnung Russlands, dem Andreas-Orden, geehrt,[18] jedoch erfährt er im Land auch viel Kritik und Hass für seine Präsidentschaft. Unter anderem wird ihm vorgeworfen, Land und Volk verraten zu haben.[19][20] Sergei Michailowitsch Mironow, Vorsitzender des russischen Föderationsrates in den Jahren 2001 bis 2011, bezichtigte Gorbatschow wegen dessen Unterschrift zu den Abrüstungsverträgen des Jahres 1991 des Verrates am Vaterland.[21] Im April 2014 gab es eine Initiative von Abgeordneten des russischen Parlamentes, einen Strafprozess gegen Gorbatschow wegen seines Handelns im Dezember 1991 einzuleiten. Die Initiative warf ihm vor, er hätte das Land absichtlich „in den Abgrund“ geführt. Der beabsichtigte Prozess sollte eine erste rechtliche Beurteilung dessen werden, was 23 Jahre zuvor geschah.[22]

Sonstiges

Seit dem Ende seiner Präsidentschaft beschäftigt sich Gorbatschow neben der nachsowjetischen Politik vor allem mit Musik. Er veröffentlichte gemeinsam mit der Schauspielerin Sophia Loren und dem Ex-US-Präsidenten Bill Clinton 2003 eine Kinder-CD und erhielt dafür einen Grammy.[23] Seit dem Tod seiner Frau Raissa Gorbatschowa 1999 lebt er unweit seiner Tochter Irina Wirganskaja bei Moskau.[4]

Mehrere Londoner Tageszeitungen behaupteten im März 2008 fälschlicherweise, er habe sich bei einem Besuch in Assisi zum Christentum bekannt.[24] Gorbatschow stellte aber klar, dass er kein Christ, sondern nach wie vor Atheist sei.[25]

Ehrungen und Auszeichnungen

Verleihung des Franz Josef Strauß-Preises an Gorbatschow in der Münchner Residenz
Gorbatschow-Büste von Serge Mangin auf dem Kreuzfahrtschiff Deutschland

Zitate

Zitat von Gorbatschow, im Treppenausgang der Berliner U-Bahn 55: Gefahren lauern auf diejenigen, die nicht auf das Leben reagieren.
  • „Bau eines neuen europäischen Hauses“ (ab 1987 in verschiedenen Reden zur Zukunft Europas)
  • „Euch steck ich noch alle in die Tasche“ (ZK-KPdSU-Sitzung im Oktober 1981)
  • Den am häufigsten zitierten Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ (Ost-Berlin, 6. Oktober 1989) hat Gorbatschow selbst, zumindest wörtlich und öffentlich, so nie gesagt. Gorbatschow, der die DDR aus Anlass der Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag besuchte, ehrte am 6. Oktober kurz nach seiner Ankunft in Ost-Berlin in der Neuen Wache unter den Linden die Opfer des Faschismus.[31] Danach ging er spontan auf die wartenden Journalisten zu und sagte in die laufenden Kameras „Я думаю, опасности только подстерегают тех, кто не реагирует на жизнь. […]“ („Ja dumaju, opasnosti tolko podsteregajut tech, kto ne reagirujet na shisn. […]“), was vom Dolmetscher live mit den folgenden Worten übersetzt wurde: „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren. Und wer die vom Leben ausgehenden Impulse – die von der Gesellschaft ausgehenden Impulse aufgreift und dementsprechend seine Politik gestaltet, der dürfte keine Schwierigkeiten haben, das ist eine normale Erscheinung.“[32] Diesen Reformgedanken äußerte er während seines Besuches in Berlin noch mehrere Male, sowohl vor der DDR-Staatsführung[31] als auch – laut Augenzeugen, darunter Jens Reich – vor einer Menschenmenge in Ost-Berlin, hier auf Russisch nur leicht verändert: „Трудности подстерегают тех, кто не реагирует на жизнь“ („Trudnosti podsteregajut tech, kto ne reagirujet na shisn“).[33] Zu Deutsch: „Schwierigkeiten lauern auf den, der nicht auf das Leben reagiert“.
Umstritten ist nun, wie es zu der – möglicherweise gewollten – Veränderung dieses Satzes im Deutschen gekommen ist. Hierzu gibt es folgende Anhaltspunkte:
  • Auf einer anschließenden informellen Pressekonferenz soll Gennadi Gerassimow, der damalige Sprecher Gorbatschows, dessen Gedanken, die Gorbatschow während seines Besuches mehrmals äußerte, auf den Punkt gebracht haben, und zwar zunächst auf Englisch: „Those who are late will be punished by life itself“.[31]
  • Laut Christoph Drösser schreibt Gorbatschow in seinen Memoiren, er habe zwei Tage später Honecker in einem Vieraugengespräch gesagt: „Das Leben verlangt mutige Entscheidungen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.[34]

Einem Dokumentarfilm zufolge (Film von Ignaz Lozo), der am 17. Oktober 2010 bei Phoenix ausgestrahlt wurde, bezog sich diese Äußerung Gorbatschows nicht auf Honecker oder die DDR, sondern auf die Genossen daheim in der Sowjetunion. Man müsste den Verlauf des ganzen auf der Straße gegebenen Interviews betrachten, um zu einer klareren Einschätzung zu kommen.

Veröffentlichungen

In der bibliographischen Internet-Datenbank RussGUS (frei zugänglich) werden zu „Gorbatschow“ ca. 700 Literaturnachweise angeboten (dort suchen unter Formularsuche Sachnotationen:16.2.2/Gorbacev, M*).

Literatur

Weblinks

Commons: Michail Gorbatschow – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

  1. Биография, gorby.ru, Biographie auf russisch.
  2. Михаил Горбачев: „Что бы ни происходило с Россией, назад она уже не вернется“, rosbalt.ru, 12. April 2005.
  3. Биография, gorby.ru, Biographie auf russisch.
  4. a b russland.RU: Der sentimentale Politiker Michail Gorbatschow ist 75 geworden. 4. März 2006.
  5. news.bbc.co.uk: 1985: Gorbachev becomes Soviet leader. Aufgerufen am 17. August 2009.
  6. Rudolf Augstein: Unantastbar, doch gefährdet. In: Der Spiegel, 22. Oktober 1990.
  7. Michail Gorbatschow: Alles zu seiner Zeit. Mein Leben. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013, ISBN 978-3-455-50276-3, S. 481.
  8. Die Welt befindet sich in einem Zustand der Wirren (5. März 2005)
  9. a b c Matthias Schepp, Christian Neef: Es waren wirklich Idioten In: DER SPIEGEL, 15. August 2011.
  10. Geschichte ist niemals fatal. 15. Mai 2007.
  11. russland.RU: Offener Brief von Michail S. Gorbatschow. 26. März 2008.
  12. a b Putin sollte gehen: Gorbatschow fordert Rücktritt In: n-tv, 24. Dezember 2011.
  13. Пресс-секретарь Путина ответил Горбачеву. In: Korrespondent.net, 25. Dezember 2011. Abgerufen am 25. Dezember 2011.
  14. Gorbatschow lobt Putin in höchsten Tönen In: FAZ, 6. November 2014, abgerufen am 8. November 2014.
  15. Mikhail Gorbachev: I am against all walls, RBTH, 16. Oktober 2014.
  16. Gorbatschow erhält ersten Dresden-Preis. In: Sächsische Zeitung, 18. September 2009.
  17. Antje Vollmer, Hauke Ritz: Mutwillig verspielt In: Frankfurter Rundschau, 24. Januar 2014.
  18. Gorbatschow bekommt höchsten Orden zum Geburtstag In: Russland-Aktuell, 2. März 2011.
  19. Gorbi hier – Verräter dort In: Deutschlandradio, 2. März 2011.
  20. Christian Neef: Russlands Hass auf Gorbatschow: Shitstorm gegen den Totgesagten In: SPIEGEL ONLINE, 8. August 2013.
  21. „Die deutsche Presse ist die bösartigste überhaupt“, Michail Gorbatschow im Gespräch mit Sabine Adler. In: Deutschlandfunk, 14. Mai 2009.
  22. Nikita Miroschnitschenko: Michail Gorbatschow: Anklageversuche nach Beifall und Jubel In: Stimme Russlands, 16. April 2014.
  23. Eintrag zum Jahr 2003 auf der offiziellen Seite der Grammy-Awards (abgerufen am 13. Februar 2012)
  24. Malcolm Moore: Mikhail Gorbachev admits he is a Christian. In: The Daily Telegraph, 19. März 2008 (englisch).
  25. Star Tribune: Gorbachev affirms he’s an atheist. 29. März 2008.
  26. Webseite zur Preisverleihung mit Grußworten, Laudatio und Dankesworten des Preisträgers Gorbatschow.
  27. Ehrenpreis für „Gorbi“ – Auszeichnung der Bundesstiftung Umwelt, Nano/3sat vom 29. Oktober 2010.
  28. Michail Gorbatschow mit Dönhoff-Preis geehrt. In: Bild, 28. November 2010.
  29. Michail Gorbatschow wird mit höchstem Orden Russlands ausgezeichnet. In: Focus, 2. März 2011.
  30. Wirtschafts-Gipfeltreffen am Tegernsee
  31. a b c Ulla Plog: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Oktober 2004.
  32. Spiegel-TV: Fünf Wochen im Herbst. Protokoll einer deutschen Revolution. Video von 1990.
  33. Neuere Forschungen und Funde zur deutschen Sprache, Website der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
  34. Stimmt’s?: Gorbis Warnung. In: Die Zeit. Nr. 41/1999.
  35. Rezension
VorgängerAmtNachfolger
Konstantin TschernenkoGeneralsekretär der KPdSU
1985–1991
Wladimir Iwaschko
Andrei GromykoStaatsoberhaupt der Sowjetunion
1988–1991
— (Russische Föderation)